Inszenierung
Stand: 18. August 2022
engl. staging, frz. mise en scène, span. escenificación
1. Einleitung
Der Begriff „Inszenierung“ hat in Anlehnung an das französische mettre en scène bzw. mise en scène in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Terminus der Theatertheorie in den deutschen Sprachgebrauch Eingang gefunden (Fischer-Lichte 1998, 82 f.; Früchtl/Zimmermann 2001, 9 f.). Freilich haben Praktiken der Inszenierung eine wesentlich längere Tradition – sowohl im Recht als auch im Theater (vgl. etwa van Dülmen 1985). Für einen ersten Zugriff auf die Bedeutung des Inszenierungsbegriffs für das Forschungsfeld „Recht und Literatur“ ist Erika Fischer-Lichtes Definition im Metzler Lexikon Theatertheorie hilfreich. Fischer-Lichte zufolge ist Inszenierung
der Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien [...], nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll, wodurch zum einen die von ihr hervorgebrachten Ereignisse als gegenwärtige in Erscheinung treten und zum anderen eine Situation geschaffen wird, die Frei- und Spielräume für nichtgeplante, nichtinszenierte Handlungen, Verhaltensweisen und Ereignisse eröffnet (Fischer-Lichte 2014b, 152).
Diese Definition verdeutlicht, dass zwischen den Begriffen „Inszenierung“ und „Aufführung“ unterschieden werden muss. Die Inszenierung ist ein Prozess, der auf die Aufführungen ausgerichtet ist. Der Inszenierungsprozess fällt aber nicht mit den Aufführungen zusammen. Vielmehr ist er als das Konzept zu verstehen, das den einzelnen je individuellen und unwiederholbaren Aufführungen zugrunde liegt und sich in ihnen realisiert (vgl. Fischer-Lichte 2004b, 10; Fischer-Lichte 2014a). Als immaterieller Gegenstand, der von der potenziell unendlichen Zahl seiner möglichen Realisierungen in Aufführungs-Ereignissen zu unterscheiden ist, kann die Inszenierung zum Gegenstand eines eigenen Immaterialgüterrechts werden (vgl. Sepperer 2015), auch wenn sie – anders als pantomimische Werke oder Werke der Tanzkunst – nicht eigens unter den Klassen der urheberrechtlich geschützten Werke in § 2 Abs. 1 UrhG erwähnt wird.
Das theatertheoretische Begriffsverständnis bietet einen fruchtbaren Ausgangspunkt, um Inszenierung im Forschungsfeld „Recht und Literatur“ zu verstehen. Denn nicht nur Theatertexte können inszeniert werden, auch das Recht wird in Gerichtsverfahren auf die Bühne gebracht, wobei das einzelne Verfahren dann als Aufführung verstanden werden kann, in der das Recht performativ hervorgebracht wird.
Semantisch geprägt wurde der für das Theater maßgebliche Inszenierungsbegriff erst in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich (Früchtl/Zimmermann 2001, 9 f.; Fischer-Lichte 2014b, 153). Im 19. Jahrhundert stand Inszenierung für den Vorgang der szenischen Darstellung von Texten, deren Inhalt aber bereits objektiv feststand, also nur mehr darstellend zur Anschauung gebracht werden musste – durch die Gestaltung von Bühne, Ton und Licht, die Positionierung von Schauspielerinnen und Publikum, das Agieren der Schauspieler, ihre Maskierung, den Einsatz ihrer Körper und weitere theatrale Elemente (Fischer-Lichte 1998, 82–84).
Auch wenn der Begriff der Inszenierung im 19. Jahrhundert keine tragende Rolle im Recht oder in den Rechtswissenschaften übernimmt, so teilt das Recht doch den grundlegenden Ausgangspunkt des Inszenierungsgedankens dieser Zeit: Auch das Recht wurde als etwas objektiv Gegebenes angesehen, das von der Richterin nur mehr anhand des jeweiligen Streitfalls festzustellen war. Paradigmatisch steht dafür das berühmte Diktum Montesquieus: Mais les juges de la nation ne sont, comme nous avons dit, que la bouche qui prononce les paroles de la loi. (Montesquieu 1951, Buch XI, Kap. 6, 404). Inzwischen haben sich Theatertheorie und Rechtstheorie von der Vorstellung verabschiedet, dass Texte und Recht auf der Bühne und im Gerichtssaal nur mehr darstellend zur Anschauung gebracht werden könnten. In der Theatertheorie war es die historische Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts, die Inszenierung zunehmend als performative Tätigkeit verstand, in der etwas Neues, Eigenes, vorher noch nicht Vorhandenes überhaupt erst in Wirklichkeit gesetzt wird und die Regisseurin als Künstlerin in den Vordergrund rückt, die das theatrale Kunstwerk schafft (Fischer-Lichte 1998, 83 f.). In der Rechtstheorie war es jedenfalls in Deutschland vor allem die Freirechtsschule, die etwa zur selben Zeit die schöpferischen und kreativen Aspekte der richterlichen Tätigkeit und die Performativität des Rechts betonte (zur historischen Entwicklung der Freirechtsschule s. Vallauri 1971; Rückert 2008, 199–255). Dass Recht nicht schon vor der Entscheidung objektiv feststeht, lässt Ferdinand von Schirachs Terror (2015) auf der Bühne des Theaters plastisch werden: Hier ist es das Saalpublikum selbst, das durch seine jeweilige Entscheidung vorgibt, ob der Angeklagte Lars Koch schuldig oder freigesprochen wird.
Inszenierung ist ein Zentralbegriff der Theatertheorie. Für die Rechtstheorie gilt das nicht in gleicher Weise. Zwar werden theatrale und performative Elemente des Rechts zunehmend erforscht (Vismann 2011; Müller-Mall 2012; Bülow/Bung/Harnisch/Wernsmann 2016, 3–17; Christensen/Lerch 2005; Münkler/Stenzel 2019; Seibert 2016, 125–145), und auch der Begriff der Inszenierung spielt dabei eine Rolle. Er steht in der rechtswissenschaftlichen Forschung aber selten explizit im Vordergrund (s. aber Münkler/Stenzel 2019). Wenn jedoch die Theaterwissenschaft Inszenierung als Prozess beschreibt, „in dem allmählich die Strategien entwickelt und erprobt werden, nach denen was, wann, wie lange, wo und wie vor den Zuschauern in Erscheinung treten soll“ (Fischer-Lichte 2014b, 154), liegt die Übertragbarkeit auf das Recht nahe: Auch Recht wird inszeniert, was sich besonders offensichtlich an Gerichtsverfahren ablesen lässt, in denen Recht öffentlich aufgeführt wird und dadurch in Erscheinung tritt.
Welche Bedeutung die Inszenierung für das Recht hat, wird unterschiedlich beurteilt. Selten wird sie überhaupt in den Blick genommen. Thomas Seibert beobachtet ihre Spielarten und Effekte mit Blick auf Strafprozesse (Seibert 2016, 137–143). Wolfgang Schild behandelt sie als Element von Theatralität und trennt sie streng vom Recht selbst: Das theatrale Moment sei für das Recht nicht erheblich und scheide aus der Rechtsbetrachtung aus (Schild 2003, 131). Laura Münkler und Julia Stenzel heben dagegen ihre Relevanz jedenfalls für die Wirkung des Rechts und das generelle Rechtsverständnis hervor (Münkler/Stenzel 2019, 19 f.). Und Sabine Müller-Mall zufolge erlauben es erst die Techniken der Inszenierung dem Recht, die „für sein In-die-Welt-Kommen notwendige Bühne zu bauen und zu gebrauchen“ (Müller-Mall 2019, 49). Deutlich öfter stehen die performativen Elemente des Rechts im Mittelpunkt (Balkin/Levinson 1998; Müller-Mall 2012, 173 ff.; Vismann 2011, 17 f., s. a. u. 3). Trennt man zwischen der Herstellung und der Darstellung des Rechts (Müller-Mall 2020, 32–37 m. w. N.), gehört die Inszenierung jedenfalls auf den ersten Blick zur Darstellung des Rechts (vgl. Luhmann 1975; Vismann 2011, 19–37). Freilich sind beide Ebenen, Herstellung und Darstellung aufeinander bezogen und nicht – wie noch bei Isay ([1929] 1970, 334-367) – strikt trennbar (vgl. nur Neumann 2001, 255, sowie eingehend ders., 1986).
Die Inszenierung des Rechts zeigt sich am deutlichsten im Gerichtsprozess. Gerichtsprozesse finden heutzutage grundsätzlich – natürlich mit rechtlich geregelten Ausnahmen und Einschränkungen – in der Öffentlichkeit statt, und die Prozessordnungen beinhalten eine Vielzahl detaillierter Normen, in denen historisch gewachsene Strategien festgehalten sind, nach denen verschiedene Gegenstände und Personen an bestimmten Orten und für bestimmte Zeiten in Erscheinung treten sollen: die Vernehmung von Zeug:innen, die Äußerungen von Kläger:innen und Beklagten, die In-Augenschein-Nahme von Gegenständen und vieles mehr. Wenn etwa § 258 Abs. 2 StPO bestimmt, dass dem Angeklagten das letzte Wort gebührt, gehört dies zur Inszenierung des Strafrechts als ausgewogen, aufgeklärt und gerecht, indem auch die Rechte der Angeklagten geachtet werden. Die Prozessordnungen bilden freilich nur den Rahmen für die Inszenierung, denn viele Details der Erzeugung des Rechts vor Gericht sind in ihnen nicht oder nur in Ansätzen geregelt. Das betrifft beispielsweise die Architektur der Gerichtsgebäude, die ‚Kostümierung‘ der Prozessbeteiligten, Blickverhältnisse und Körperpositionierungen (zu diesen Elementen etwa Vismann 2011, 32 f.; Seibert 1996, 165 f.).
Diese Freiheiten in der performativen Rechtserzeugung entsprechen wiederum dem eingangs erwähnten theatertheoretischen Inszenierungsbegriff: Denn Inszenierung wird in der Theatertheorie zwar als intentionales In-Szene-Setzen verstanden (Seel 2001, 49), beinhaltet zugleich aber Freiräume für Ungeplantes (Fischer-Lichte 2014b, 154 f.; vgl. auch Seibert 1996, 141 f.). Dass die Inszenierung auch als Inszenierung wahrgenommen wird, ist dabei nicht erforderlich (Fischer-Lichte 1998, 85). Und doch dürften die Freiheiten in der performativen Rechtserzeugung oft weniger groß oder auffällig sein als in der Welt des Theaters (s. a. u. 4). Wenn Martin Seel darauf verweist, dass sich bei Inszenierungen „eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können“ (Seel 2001, 49), betont er einen Aspekt, der im Gerichtsprozess eher nicht im Vordergrund steht.
Gerade in politisch geprägten Prozessen lassen sich die Inszenierungselemente des Rechts klar erkennen, wenn Verhandlungen in der Öffentlichkeit stattfinden. In solchen Prozessen begründet die Gerichtsöffentlichkeit selbst die gesellschaftliche Relevanz des Prozesses, in dem es eben nicht nur um die Aushandlung individueller Rechte oder individueller Schuld geht. Der Gerichtssaal kann dabei zum Erscheinungsraum des Politischen (im Sinne von Hannah Arendt 2007) werden, zum Ort, an dem Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als Grundwerte des Rechtsstaats öffentlich ausgehandelt werden. Solche Aushandlungen werden durch die agonale Struktur gerichtlicher Verfahren gefördert, in denen Konflikte ausgetragen werden, die jedoch zugleich durch rechtliche Rahmenbedingungen eingehegt werden (Vismann 2011, 72–96). In politisch geprägten Prozessen zeigt sich auch, dass Verfahrensbeteiligte politisch agieren, indem sie sich die Inszenierung des Rechts zu eigen machen, sie für ideologische Zwecke einsetzen und u.U. auch missbrauchen können. Weil Recht auf seine Darstellung im Prozess angewiesen ist, konnte beispielsweise Ralf Wohlleben im NSU-Prozess die Bühne des Prozesses dazu nutzen, rechtsradikale Ideologien und Verschwörungstheorien öffentlichkeitswirksam zu positionieren (Jansen 2018; Ramm 2016). Recht und Gesellschaft müssen solche Wendungen aushalten. Sie lassen sich verfahrensintern zwar einhegen, ließen sich aber letztlich nur durch Geheimprozesse vollständig vermeiden. Die Rückkehr zu Geheimverfahren, bei denen jede unmittelbare und mittelbare Öffentlichkeit ausgeschlossen wäre, würde freilich die Aufgabe einer zentralen rechtsstaatlichen Errungenschaft bedeuten – in Deutschland wäre sie zudem verfassungswidrig (Arnold 2012, 26).
Recht muss, wenn es mündlich verhandelt wird, jedenfalls im Grundsatz vor einem Publikum in Erscheinung treten, also inszeniert werden können. Nicht umsonst ist die Gerichtsöffentlichkeit auch in Art. 6 Abs. 1 EMRK und in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Die Gerichtsöffentlichkeit als zentrale Komponente der Inszenierung des Rechts schützt in den Worten des EGMR „die Gerichtsunterworfenen gegen eine geheime Justiz, die der Kontrolle der Öffentlichkeit entgeht“ und stellt „ein Mittel dar, um das Vertrauen in Ober- und Untergerichte zu erhalten“ (EGMR NJW 1986, 2177, 2178). Die Transparenz des Verfahrens schützt also einerseits die Verfahrensbeteiligten vor Willkür und inszeniert zugleich, dass das Recht die Verfahrensbeteiligten als Rechtspersonen ernst nimmt. Sie dient aber auch dazu, das öffentliche Vertrauen in das Recht und seine Institutionen zu erhalten (Luhmann 1975, 123 f.).
Der Inszenierungsbegriff ist also nicht nur für das Theater und die Theatertheorie, sondern auch für das Recht und die Rechtstheorie außerordentlich fruchtbar. Gerade deshalb stellt er auch das Forschungsfeld „Recht und Literatur“ vor neue Herausforderungen: Wie und gegebenenfalls in welcher Form machen sich Recht und Theater die Inszenierungsbegriffe der jeweils anderen Seite zu eigen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede prägen diese Begriffe? Und werden Erzählräume von Theater oder Gericht vielleicht sogar durch die Inszenierungsnarrative der jeweils anderen Seite konstitutiv begründet? Die Beschäftigung mit diesen Fragen könnte dazu beitragen, die jeweiligen Erklärungs- und Gestaltungspotenziale von Recht und Literatur präziser zu erschließen.
2. Inszenierung und Theatralität
Der Begriff der Inszenierung ist mit dem Begriff der Theatralität aufs Engste verbunden. Theatralität wird in einem engeren Sinne als „Gesamtheit aller Materialien bzw. Zeichensysteme“ definiert, „die in einer Aufführung Verwendung finden und ihre Eigenart als Theateraufführung ausmachen, also die je spezifische Organisation von Körperbewegung, Stimmen, Lauten, Tönen, Licht, Farbe, Rhythmus, etc., wie sie von der Inszenierung vorgenommen wird“ (Fischer-Lichte1998, 85).
So verstanden meint ‚Theatralität‘ ein Set an Zeichen und Praktiken, die durch die Inszenierung zur Erscheinung gebracht werden (vgl. ebd.). Seit dem 20. Jahrhundert wird der Begriff jedoch zunehmend entgrenzt und findet auch in Bereichen außerhalb des Theaters Anwendung zur Beschreibung spezifischer Eigenschaften und Handlungen (vgl. Schramm 2005, 49). Als Beispiele nennt Fischer-Lichte u.a. explizit den Bereich des Rechts (vgl. Fischer-Lichte 1998, 85). Theatralität in diesem entgrenzten Sinne meint ein „allgemeines kulturerzeugendes Prinzip“ (ebd.), das durch das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache operiert (vgl. Schramm 2005, 72). Theatralität ist demnach nicht nur ein Modus der Organisation von Zeichen und Materialien sowie der Körper/-bewegungen, sondern auch der Wahrnehmung, sodass das Publikum dem Theatralen konstitutiv ist. Die neuere Forschung betont den Aspekt der Handlung zunehmend: Laut Matthias Warstat ist Theatralität als eine spezifische Handlungsform zu verstehen, als ein Handeln im Modus des „Als-ob“. Dieses Handeln wird vom sozialen Rollenhandeln (Handeln „als“) abgegrenzt, und als ein inszeniertes Handeln vor einem Publikum aufgefasst, von dem die Handelnden überzeugt sind, dass es das Als-ob des Handelns durchschaut (vgl. Warstat 2018, 18).
Inszenierung versteht Erika Fischer-Lichte als einen konstitutiven Bestandteil von Theatralität. Ihr zufolge gliedert sich der Begriff Theatralität in vier Aspekte: Inszenierung, Performance, Korporalität und Wahrnehmung, wobei Inszenierung „auf die schöpferische Hervorbringung“ (Fischer-Lichte 1998, 86) zielt. Inszenierung ist also derjenige Aspekt von Theatralität, der intentional etwas zur Erscheinung bringt (ebd., 87). Dieses Verhältnis von Theatralität und Inszenierung ist jedoch zu prüfen: Ist eine nicht-theatrale Inszenierung denkbar oder eine Theatralität ohne Inszenierung? Zumindest die letzte Frage könnte man bejahen, wenn man die Auffassung von Theatralität zugrunde legt, die Matthias Warstat entwickelt. Ihm zufolge gibt es theatrale Szenen, die nicht intentional inszeniert sind, aber vom Wahrnehmungsstandpunkt als theatral aufgefasst werden, z.B. eine Straßenszene (vgl. Warstat 2018, 251). Wahrnehmung kann also Inszenierung als bewusstes schöpferisches In-Szene-Setzen ablösen, sodass Inszenierung nicht als ein konstitutives Element von Theatralität verstanden werden muss. Ob umgekehrt eine Inszenierung denkbar ist, die nicht theatral fungiert, insofern der Begriff der Inszenierung die Aspekte der Wahrnehmung eines Publikums, der Darstellung und der Performanz beinhaltet, muss als offene Forschungsfrage adressiert werden. Ein mögliches Beispiel für solch einen Fall liefert der politisch instrumentalisierte Schauprozess. Er ist inszeniert, bringt intentional etwas zur Erscheinung, ist möglicherweise sogar gescriptet, aber er ist nicht theatral, insofern er gerade darauf aus ist, dass das Publikum das Handeln nicht im Modus des „Als-Ob“ wahrnimmt, sondern als soziales Rollenhandeln der beteiligten Akteure mit den entsprechenden legalen Rahmungen und rechtlichen Konsequenzen.
Über diesen Sonderfall rechtlich-politischen Handelns hinaus hat der Begriff der Theatralität eine Bedeutung für das Recht und für Rechtshandlungen, insbesondere wenn es um das spezifische Auftreten der Akteure vor Gericht geht. Die Forschung hat unter dem Begriff des Theatralen vor allem die Aspekte der Performanz der Verhandlung (s.u. 3), den Modus der Darstellung in seiner räumlichen und zeitlichen Strukturierung (vgl. die übersichtliche Darstellung bei Seibert 2016, 128–131), die körperlichen Auftritte der Akteure (vgl. ebd., 131–137) sowie die Inszeniertheit des Prozesses berücksichtigt (vgl. ebd., 137–143). Aber vor allem theatrales Handeln als ein Modus des Als-ob findet sich im Gericht vielfach. Warstat selbst gibt das Beispiel eines Strafverteidigers, der so handelt als ob er von der Unschuld seiner Mandantin überzeugt sei (vgl. Warstat 2018, 237). Dieses Handeln ist insofern als theatral zu verstehen, als es sich um ein intentionales, inszeniertes Darstellen, um körperliche Gestiken, Mimiken, Sprachverwendungen handelt, die performativen Charakter besitzen, das heißt auf die Wirklichkeitskonstituierung abzielen – in diesem Fall, die Richterin oder den Geschworenen von der Unschuld zu überzeugen –, ohne dass es vom Publikum als Lüge oder Verstellung gedeutet würde. Warstat unterscheidet hierbei mit Arno Paul zwischen Verstellung und Ver-stellung, wobei letzteres das Als-ob-Handeln meint, das von Akteuren und Publikum als solches erkannt werden kann, und ersteres auf ein Täuschen, ein Blendwerk abzielt (vgl. ebd., 234). Theatrales Handeln aber ist genauso wenig „fake“ wie inszeniertes Handeln. Es ist der Begriff der Performanz, der hier zum Tragen kommt, denn im Handeln des Als-ob wird eine zweite, virtuelle Wirklichkeit evoziert, die die Möglichkeit der Realisierung mitpräsentiert (vgl. ebd., 240). Auf diese Weise ist das Handeln der Verteidigerin auf eine Verwirklichung ausgerichtet. Dies durchschaut in der Regel auch das Publikum, das die Handlungen der Verteidigerin nicht sanktioniert, sondern als legitime Vertretung von Interessen wahrnimmt. „Es gibt im Alltag“, so Warstat, „ein starkes Bewusstsein für Theatralität und zugleich ein großes Verständnis für den Sinn von Theatralität“ (ebd., 237).
Verschiedene Forschungsbeiträge, u.a. von Cornelia Vismann und Sabine Müller-Mall, betonen den performativen Charakter des Rechts, wie im folgenden Abschnitt erörtert wird. Der Begriff der Performativität ist in dem der Theatralität enthalten, doch dieser reicht, wie der Inszenierungsbegriff auch, über die Reichweite von Performanz hinaus, während gleichzeitig auch Performanz über den Begriff des Theatralen hinausreicht. „Die Als-ob-Handlung“, so erneut Warstat, „ist eine inszenierte Handlung, die im Unterschied zur performativen Handlung nicht nur etwas hervorbringt – das tut sie auch –, sondern zugleich eine Ver-stellung mit sich bringt, von der der oder die Handelnde annimmt, dass sie erkannt werden kann“ (ebd., 236). Theatrale Handlungen finden also im Gericht z.B. als Parteinahme für eine Mandantin statt, aber auch als Haltung der Angeklagten, die sich ja meist so verhalten, als ob sie unschuldig seien. Neben den theatralen Handlungen der Prozessbeteiligten und der entsprechenden Wahrnehmung des Publikums können mit Blick auf die eingangs zitierte Definition von Fischer-Lichte weitere Zeichen und Materialien im Gericht als theatrale Elemente gelesen werden. Ein anschauliches Beispiel ist die ‚Kostümierung‘ von Richter:innen und Anwält:innen. Viel besprochen ist beispielsweise die Entscheidung der Bundesverfassungsrichter:innen für die rote Farbe ihrer Roben, die in jeder Aufführung die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts vom Bundesjustizministerium mit zur Erscheinung bringt (vgl. Felz, 2011, 114–117).
3. Inszenierung und Performativität
Theatralität und Performativität sind in dem Begriff der Inszenierung miteinander verknüpft und erscheinen häufig überlappend, adressieren dabei jedoch jeweils unterschiedliche Aspekte. Während der Begriff der Theatralität auf die Beschreibung einer bestimmten Modalität abzielt, fokussiert Performativität die wirklichkeitskonstituierende Kraft (Performanz) kultureller Handlungen. Bezog sich der Ausdruck ‚performativ‘ zunächst nur auf Sprechakte (Austin 1962; Searle 1969), wurde der Grundgedanke einer performativen Konstitution von Wirklichkeit in der Folge auch auf andere kulturelle Phänomene übertragen (so z.B. Butler 1988, 519–531). Der Begriff des Performativen bezeichnet somit im Allgemeinen „symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen“ (Fischer-Lichte 2012, 44).
Ihren Ausgang nehmen diverse Theorien des Performativen bei John L. Austin. Im Rahmen seiner 1955 an der Harvard University gehaltenen Vorlesungen, die posthum unter dem Titel How to Do Things with Words publiziert wurden, zeigt Austin auf, dass es Äußerungen gibt, die nicht nur etwas aussagen, sondern zugleich vollziehen, wovon sie sprechen. Wenn jemand beim Wurf einer Flasche gegen einen Schiffsrumpf ausruft, „I name this ship the Queen Elizabeth“, benennt dies nicht nur die Tätigkeit des Taufens, sondern vollzieht den Akt des Taufens auch im Sprechen (Austin 1962, 5). Der Sprechakt schafft also eine soziale Tatsache: Das Schiff trägt von nun an den Namen Queen Elizabeth. Ebenso stellt eine Richterin, die eine Angeklagte schuldig spricht, die Schuld nicht lediglich fest, sondern begründet sie auch in gewisser Weise: Indem das Urteil die Unschuldsvermutung außer Kraft setzt, gilt mit Rechtskraft des Urteils die Verurteilte auch als schuldig. In einer Anmerkung schreibt Austin bereits mit Blick auf das Recht:
Of all people, jurists should be best aware of the true state of affairs. Perhaps some now are. Yet they will succumb to their own timorous fiction, that a statement of ‚the law‘ is a statement of fact. (Austin 1962, 4)
Er unterscheidet daher zwischen konstativen Äußerungen, die sich als wahr oder falsch qualifizieren lassen, und performativen Sprechakten, die glücken oder misslingen können – auch wenn er diese Trennung später wieder fallen lässt. Ihr Gelingen ist dabei davon abhängig, „that the circumstances in which the words are uttered should be in some way, or ways, appropriate“ (Austin 1962, 8). So lässt sich am Beispiel der Urteilsverkündung aufzeigen, dass es die institutionelle Verankerung der Richterin, d.h. ihre soziale Anerkennung als solche ist, durch die sie jemanden frei oder schuldig zu sprechen vermag (Bülow 2016, 10). Fischer-Lichte weist deshalb darauf hin, dass bereits bei Austin „de[r] Vollzug performativer Akte als ritualisierte öffentliche Aufführung“ (Fischer-Lichte 2004a, 41) begriffen werde, insofern sich die performative Äußerung immer an eine Gemeinschaft richte (ebd., 32).
Mit ihrer Ästhetik des Performativen (2004a) hat Erika Fischer-Lichte den Begriff des Performativen für die Theaterwissenschaft ausgearbeitet. Ins Zentrum ihrer Überlegungen rückt sie dabei die Aufführung, die bereits bei Austin (und auch bei Butler) aufscheint, d.h. sie begreift performatives Handeln als aufführungshaft. Zentral ist für ihren Aufführungsbegriff die leibliche Ko-Präsenz von vor- bzw. füreinander in Erscheinung tretenden Akteur:innen und Zuschauer:innen (Fischer-Lichte 2004a, 47). Während die Aufführung im Theater traditionell als Übermittlung bzw. Realisierung von im Dramentext generierten Bedeutungen gesehen wurde, argumentiert Fischer-Lichte unter Bezugnahme auf das Performative, dass es vielmehr die Aufführung ist, welche (eigene) Bedeutungen hervorbringt (Fischer-Lichte 2004a, 53). Als reziproke Konstitutionsleistung, die sich als autopoietische Feedbackschleife zwischen Publikum und Akteur:innen vollzieht (Fischer-Lichte 2004a, 59), entstehen Bedeutungen im Theater immer erst im Verlauf der Aufführung, d.h. es ist ihre spezifische Performanz, die Bedeutungen hervorbringt. Die Inszenierung als Vorgang der Planung, welche Elemente zu welchem Zeitpunkt an welchem Punkt des Raumes für wen auf welche Weise in Erscheinung treten sollen, schließt somit immer schon die Reflexion auf die Performanz mit ein. Zugleich überschreitet die konkrete Aufführung durch ihre Performanz die Inszenierung: „Es ist das P[erformativ]e, welches die Möglichkeit von Kontingenz eröffnet, durch die Aufführungen letztlich unverfügbar bleiben, d.h. der Kontrolle Einzelner entzogen“ (Fischer-Lichte 2014c, 258).
Ähnlich der Aufführung im Theater, deren Bedeutungsdimensionen nicht schon dem Dramen- oder Theatertext inhärent sind, sondern erst in ihrem Verlauf konstituiert werden, ist auch das Recht nicht bereits in Gesetzestexten festgeschrieben, sondern wird maßgeblich erst in der konkreten Anwendung und Aushandlung durch die verschiedenen Beteiligten vor Gericht konstitutiv erzeugt (Arnold 2016, 11 f.). Der Vorgang der Rechtsprechung ist in dieser Perspektive nicht die bloße Anwendung eines in seiner Bedeutung bereits feststehenden Normtextes auf einen Sachverhalt. Mit Ralph Christensen und Kent D. Lerch lässt sich festhalten: „Das Verfahren als Performanz des Rechts ist keine Ausführung des Gesetzes, sondern eine Inszenierung, in der sich immer wieder Neues ereignet“ (Christensen/Lerch 2005, 94). Für die performative Rechtserzeugung sind Gesetze – jedenfalls in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen – gleichwohl bedeutsam: Ihr Text wird in Gerichtsverfahren als Rechtsquelle zur Aufführung gebracht, indem sich die Akteur:innen auf diesen Text beziehen und gerade dadurch seine konkreten Bedeutungen performativ hervorbringen (Christensen/Lerch 2005, 94). Gerichtliche Verfahren sind also insofern performativ, als sie das Recht nicht lediglich aussprechen oder feststellen, sondern vielmehr zu seiner konkreten Ausgestaltung konstitutiv beitragen.
Dabei kann, wie Sabine Müller-Mall in Performative Rechtserzeugung (2012) darstellt, im Hinblick auf die (sprachliche) Erzeugung von Recht kaum zwischen Vorgängen der Verfassungsgebung, der Gesetzgebung und der Rechtsprechung (sowie diversen Mischformen) unterschieden werden (Müller-Mall 2012, 209). Normerzeugung und Normanwendung stellen vielmehr „vergleichbare Ereignisse performativer Rechtserzeugung dar, die nicht nur auf ähnliche Weise beschrieben werden können, sondern deren Erfolg auch voneinander abhängt“ (Müller-Mall 2012, 244; ähnlich auch Brandom 2014, 23). Sie adressiert damit zugleich die Frage nach der Normativität des Rechts, die sie als rekursives Ergebnis einer rechtserzeugenden Praxis entwirft (Müller-Mall 2012, 226). „Dass Rechtsnormen als Rechtsnormen erzeugt werden“, so Müller-Mall, „kann daran erkannt werden, dass sie wiederum als Rechtsnormen iteriert, also gebraucht werden“ (Müller-Mall 2012, 270). Die Normativität des Rechts lässt sich dabei weniger als statische Eigenschaft verstehen, sondern vielmehr als Teil einer historisch immer weiter fortschreitenden Entwicklung (Brandom 2014, 32).
Gerichte sind an dieser Entwicklung ganz maßgeblich beteiligt, schon deshalb (aber nicht nur), weil sie durch ihre Entscheidungen die Rechte und Pflichten der jeweils betroffenen Parteien hervorbringen. Die Performanz des Rechts zeigt sich also in Gerichtsverfahren in besonderem Maße. Cornelia Vismann weist in Medien der Rechtsprechung (2011) zudem auf die Performanz des Verfahrens selbst hin, das sie als ein Verfahren der Darstellung begreift. Sie führt aus, dass ein Gerichtsverfahren nicht etwa notwendig sei, weil es ein (legitimes) Urteil vorbereite. Die Leistung des Verfahrens bestehe vielmehr darin, unter Anwesenheit aller Beteiligten für einen störenden Sachverhalt eine Form in Sprache zu finden: „Diese Konversion von Ding in Sache ist der performative Kern allen Gerichthaltens“ (Vismann 2011, 20). Indem sich die Wiederaufführung der Tat unter den Bedingungen des Gerichts vollzieht, ist sie keine Rekonstruktion des „Dings“, das zur Verhandlung steht, sondern lässt etwas Neues entstehen: „eine Erzählung über das, was sich zugetragen hat“ (ebd. 33) Die theatrale Inszenierung im Gerichtssaal schafft die Bedingungen, unter denen der gemeinsame „Versprachlichungsprozess“ (ebd. 31) vollzogen werden kann. Die Verhandlung trägt in dieser Perspektive performative Züge, die ritueller Natur sind:
Im Nachspiel soll das, was zur Versammlung drängt, in eine andere Zeitdimension überführt werden. Es soll zu etwas werden, das stattgefunden hat. Indem der gerichtliche Schauplatz das [die Ordnung störende] Ding aufführt, soll es Vergangenheit werden. Noch vor jeder Einzelheit der Verhandlung besteht die zentrale Funktion der Verhandlung in dieser Transformation der schlichten Dauer in eine abgeschlossene Vergangenheit. Das bedrohlich Weiterwuchernde der Dinge […] wird darin gebannt. Das Nachspielen verspricht demnach die fundamentale Befriedung des Dings. (Vismann 2011, 37)
Wenngleich die Theatralität und Performanz rechtlicher Verfahren zunehmend Beachtung im Rechtsdiskurs finden, wird eine Gleichsetzung der Inszenierung im Gericht und derjenigen eines Gerichtsprozesses im Theater mit Hinweis auf die „Konsequenzverminderung“ des Theaters (Kotte 2005, 41) abgewiesen. Der auf der Theaterbühne vollzogene Sprechakt ist auf durchschaubare Weise unernst, weshalb Austin ihn als parasitären Sprachgebrauch aus seinen Überlegungen ausschließt (Austin 1962, 22). Gerade das Gerichtstheater der Gegenwart lässt eine solche schematische Unterscheidung jedoch immer wieder kollabieren, wenn etwa Milo Rau in Die Moskauer Prozesse (2013; Videodokumentation 2014) ein vergangenes Gerichtsverfahren mit realen Prozessbeteiligten noch einmal verhandeln oder in Das Kongo Tribunal (2015; Videodokumentation 2017) reale Zeug:innen im Rahmen eines fiktiven Verfahrens auftreten lässt. Wenn auch hier das im Theater gefällte Urteil keine rechtlich bindenden Rechte und Pflichten zuschreiben kann, bleibt zu fragen, inwiefern das Theater als Theater am Recht (und seiner Normativität) mitarbeitet, wenn es vor, für und mit einem Publikum ein Verfahren im Modus der Fiktion simuliert, Institutionen und Funktionsweise des Rechtsapparates auf die Bühne bringt und/oder die Gerechtigkeit des Rechts im Theater zur Verhandlung stellt.
4. Inszenierung und Ritual
Oft fällt der Begriff „Ritual“, wenn die Inszenierung des Rechts und der Aufführungscharakter von Gerichtsverhandlungen thematisiert werden (Boehme-Neßler 2011, 167 ff.; Schwarte 2019, 137; Legnaro/Aengenheister 1999, 20; Diehl u.a. 2006, 14). Das ist kein Zufall, lässt sich doch gerade auch der Begriff des Rituals in diesen Kontexten fruchtbar machen. Ritual und Inszenierung stehen in einem gewissen Zusammenhang, meinen aber nicht dasselbe. Der Begriff des Rituals fokussiert etwas Eigenes und wird wiederum ganz unterschiedlich verstanden. Einigkeit besteht immerhin insoweit, als unter Ritualen Handlungen verstanden werden, die durch ein hohes Maß an Formalität geprägt sind und sich wiederholen (Stollberg-Rilinger 2019, 9; Braungart 2012, 45; Dücker 2007, 29 f.). Viele Autor:innen heben die ästhetische Dimension hervor, durch die sich Rituale auszeichnen (Dücker 2007, 29 f.; Braungart 2012, 45.). Daneben finden sich aber viele weitere Merkmale, die als Kennzeichen von Ritualen ins Spiel gebracht werden, etwa die dramatische Struktur (Dücker 2007, 29 f.), der Aufführungscharakter (Stollberg-Rilinger 2019, 9), die Performativität (ebd.), Symbolizität (ebd.), Feierlichkeit (Dücker 2007, 29 f.) oder auch die Öffentlichkeit (ebd.). Dass diese Elemente nicht immer in gleicher Weise thematisiert oder als Kennzeichen von Ritualen herausgestellt werden, dürfte vor allem an den ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen liegen, in denen uns Rituale begegnen (Braungart 2012, 74). Dass es so viele Spielarten von Ritualen gibt, ist in der Nähe des Begriffs „Ritual“ sowohl zum Inszenierungsbegriff als auch zum Aufführungsbegriff begründet. Spricht man von „Ritual“, können sowohl die Inszenierung (bzw. das Inszeniertsein) einer bestimmten Handlung gemeint sein, aber auch konkrete Aufführungen bestimmter Handlungen, die man als „Ritual“ ansieht. Wendet man sich dem Verhältnis von „Ritual“ und „Inszenierung“ zu, so stechen auffällige Gemeinsamkeiten ins Auge: Ritual und Inszenierung setzen ein planvolles Vorgehen voraus, bieten aber zugleich Freiräume für Ungeplantes (s.o. Einleitung). Auch Rituale und Aufführungen haben vieles gemeinsam: Sowohl künstlerische als auch rituelle Aufführungen werden als „Schwellenerfahrungen“ erlebt, die bei den Personen, die sie erleben, Transformationen hervorrufen können (Fischer-Lichte 2004a, 305 ff). Bei Theateraufführungen ist es „das Kollabieren des Gegensatzes von Kunst und Wirklichkeit […], welches die Beteiligten in einen Schwellenzustand versetzt“ (ebd., 307). Häufig beschränkt sich die durch veränderte Körperzustände oder Rollenwechsel hervorgerufene Transformation der Zuschauenden jedoch auf die Dauer der Aufführung (ebd., 313). Eine Neuorientierung im Hinblick auf die Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung wird nur manchmal bewirkt (ebd.). Dies entscheidet sich stets im jeweiligen Einzelfall (ebd.).
Bei Theateraufführungen steht insgesamt der kreative Akt der Erschaffung eines Kunstwerks im Mittelpunkt, während sich Rituale dadurch auszeichnen, dass sie einzelne Akte in ein kollektives, überindividuelles Strukturmuster einbinden (Stollberg-Rilinger 2019, 13). Rituale sorgen für die Beständigkeit einer Ordnung (ebd.), indem sie Gemeinschaft herstellen (Dücker 2007, 30), bei der Konfliktbewältigung helfen (Boehme-Neßler 2011, 173; Braungart 2012, 77), latent krisenhafte Übergangssituationen definieren und stabilisieren (Braungart 2012, 81 f.; Stollberg-Rilinger 2019, 13) und Verbindlichkeit stiften (Dücker 2007, 38). Christoph Menke weist zudem darauf hin, dass Rituale die normative Ordnung einer Gesellschaft reflektieren, indem sie sich neben diese Ordnung stellen, in ihr jedoch alles so lassen, wie es ist (Menke 2018, 133 f.). Um diese Wirkungen zu erzielen, kommt es entscheidend darauf an, die wiederholbaren und hergebrachten Formen des entsprechenden Rituals einzuhalten, denn dadurch werden die Beteiligten in eine Ordnung hineingestellt, die älter ist als sie selbst und sie zugleich überdauern wird (Stollberg-Rilinger 2019, 13).
Weil die genannten Funktionen auch solche des Rechts sind, spielen Rituale in der Rechtspraxis eine so große Rolle. Recht und Ritual standen schon immer in einer engen Beziehung zueinander, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass „beide Wörter auf denselben indogermanischen Stamm rtá zurückgehen“ (ebd., 145). Im modernen Recht wird Ritualen vor allem ein symbolischer Wert zugeschrieben (ebd., 148). In vormodernen Gesellschaften dienten Rituale dagegen niemals bloß der Symbolisierung von Rechtsverhältnissen. Ein die einzelnen Rechtsverhältnisse definierendes abstraktes Normensystem gab es damals nicht und so wurden Rechtshandlungen durch Rituale verkörpert (Stollberg-Rilinger 2019, 145 ff.). Heutzutage ist man sich nicht immer einig, ob bestimmte Erscheinungen im Rechtssystem als Ritual zu qualifizieren sind, und auch über die zu verwendende Terminologie herrscht Streit. Peter A. Winn zufolge sind sämtliche Handlungen als Rechtsrituale zu qualifizieren, deren Vollzug ein rechtlich bedeutsames Ereignis konstituiert (Winn 2008, 453). Dazu zählt er den Vollzug eines letzten Willens, die Übertragung von Grundeigentum, das Einlösen eines Pfandbriefes und die Erhebung eines formalen Einspruchs vor Gericht (ebd.). Ein so weites Verständnis des Begriffs des Rechtsrituals lehnt Lars Ostwaldt hingegen ab. Ihm zufolge kann nur dann von einem Rechtsritual gesprochen werden, wenn bestimmte „rechtssymbolische[...] Formen“ zwingend eingehalten werden müssen, damit die mit dem Akt erstrebte Rechtswirkung erzielt wird, während „deklaratorische Handlungen“ (z.B. ein Handschlag nach § 1789 BGB) und „zeremonielle Formen“ (z.B. das Tragen von Amtstrachten) nach diesem Ansatz keine Rechtsrituale begründen (Ostwaldt 2006, 137 ff.). Rechtsrituale sind danach nur Rechtshandlungen, deren „Rechtswirkung nicht an den Willen der Handelnden, sondern an die korrekte Vollziehung der äußeren Form der Handlung anknüpft“ (ebd., 130). Insbesondere das antike Gerichtsverfahren, das von einem besonders strengen Rechtsformalismus geprägt war, enthielt Rechtsrituale in diesem Sinne: Wer im altrömischen Spruchformelverfahren einen Anspruch geltend machte, musste etwa genaustens festgelegte Gesten fehlerfrei vollziehen und Formeln korrekt aufsagen, um nicht Gefahr zu laufen, den Rechtsstreit zu verlieren (Fögen 1999, 149 ff.). Die penible Einhaltung einer bestimmten Form besitzt dagegen heutzutage nicht mehr denselben Stellenwert wie damals. Rituale tauchen in der Rechtspraxis jedoch weiterhin auf. Als Beispiele für Rituale in modernen Gerichtsverfahren sind etwa das Aufstehen beim Eintreten der Richterinnen und Richter und bei der Verkündung der Entscheidung sowie die Einleitung der Urteilsverkündung mit der Formel „im Namen des Volkes“ zu nennen. Ostwaldt schlägt vor, für rituelle Handlungen, die zwar innerhalb eines Rechtskontextes vollzogen werden, jedoch für die Wirksamkeit des Rechtsaktes ohne Belang sind, den Begriff „Rituale im Recht“ zu verwenden (Ostwaldt 2006, 151). Die Differenzierung zwischen Rechtsritualen und Ritualen im Recht hat Heike Jung jedoch angesichts der fließenden Übergänge als zu feingliedrig zurückgewiesen (Jung 2008, 321).
Umstritten ist auch die Frage, ob Gerichtsverfahren an sich als Rituale anzusehen sind. Verfahren in heutigen Entscheidungsorganisationen als Rituale zu deuten, verbietet sich Niklas Luhmann zufolge (Luhmann 1975, 40). ‚Moderne Entscheidungsverfahren‘ grenzt er von ‚archaischen Schlichtungsverfahren‘ mit „zwangsläufige[n] Ritualien“ (ebd.) ab. Luhmanns Vorstellung von Ritualen im Recht entspricht somit am ehesten den Reinigungseiden, die im Mittelalter als Mittel der Urteilsfindung zum Einsatz gelangten. Ein Beklagter konnte sich damals vom Klagevorwurf befreien, indem er einen Schwur in einer bestimmten rituellen Form vollzog (Stollberg-Rilinger 2019, 148). Luhmann sieht in der Offenheit von Verhaltensalternativen den wesentlichen Unterschied zwischen Ritualen und Verfahren (Luhmann 1975, 40). Ein solches Verständnis des Rituals hält Wolfgang Braungart für zu eingeschränkt (Braungart 2012, 47). Auch Rituale räumen Menschen ihm zufolge die Möglichkeit ein, sie „zu durchbrechen, abzubrechen und zu variieren“ (ebd.). In rituell ausgestalteten Prozessen verbänden sich Verfahren und Ritual besonders eng (ebd.). Im Ergebnis unterscheiden sich Braungarts und Luhmanns Positionen jedoch kaum, denn auch Luhmann räumt ein, dass Gerichtsverhandlungen rituelle Akte enthalten (Luhmann 1975, 39).
Es erklärt sich nicht von selbst, welchen Sinn rituelle Formen in modernen Gerichtsverfahren haben. Nicht jeder Mensch, der vor Gericht erscheint, versteht, weshalb er sich an den Prozessritualen beteiligen soll. Als Beispiel hierfür sei eine Szene genannt, die sich in einem Strafverfahren gegen den Aktivisten der Studentenbewegung Fritz Teufel ereignete: Das „rituelle Aufstehen“ zu Beginn der Verhandlung kommentierte er mit den Worten „wenn’s denn der Wahrheitsfindung dient“ (Jahn/Ziemann 2020). Rituale im Recht sind jedoch keineswegs überflüssiges Ornament. Sie besitzen eine ordnende, konfliktbewältigende, legitimatorische und Verbindlichkeit stiftende Funktion. Rituale dienen im Gerichtsverfahren dazu, Emotionen zu mobilisieren, aber auch zu kanalisieren. Gerichtsrituale rufen einerseits Emotionen hervor, deren Wirkung darin besteht, dem Gerichtsverfahren Bedeutung, Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Dauerhaftigkeit zu verleihen (Boehme-Neßler 2010, 187 f.). Luhmann verweist andererseits darauf, dass Rituale den Einfluss von Emotionen auf die Gerichtsverhandlung minimieren sollen (Luhmann 1975, 39). Indem man durch Rituale vermeidet, dass Verlegenheitssituationen entstehen, werden nämlich Gefühle wie Angst und Unsicherheit bei den Beteiligten reduziert (ebd.). Auch Aggressivität und Mitleid sollen aus dem Gerichtsprozess ausgeschlossen werden (ebd.). Insofern dienen Rituale im Recht auch der „Entschärfung und Bewältigung […] von Krisensituationen“ (Braungart 2012, 77).
Durch Rituale wird zweckrationalen Handlungen kollektive Verbindlichkeit verliehen, indem eine höhere Wertinstanz angerufen wird (Dücker 2007, 38). Als Beispiel aus dem Gerichtsalltag ist die Urteilsformel „Im Namen des Volkes“ zu nennen, die eine Bezugnahme auf das Volk enthält, das Inhaber jeglicher legitimer Staatsgewalt und somit die höchste Instanz im Staat ist. Aber nicht nur anhand der Eingangsformel lässt sich die legitimatorische und Verbindlichkeit stiftende Wirkung des Rituals beobachten. Bei der gesamten Urteilsverkündung handelt es sich um die „szenisch-gestische-sprachliche Aufführung“ eines Rituals (Wulf 2003, 39). Durch seinen Vollzug entsteht eine neue soziale Realität: Das Recht wird im Urteil verkörpert und diese Verkörperung schafft Wirklichkeit (ebd.). Insofern zeigt sich im Ritual der Urteilsverkündung die performative Dimension der Rituale im Recht (ebd.). Der Akt des Urteilens vollzieht eine „ritualisierte Statusumwandlung“ (Legnaro/Aengenheister 1999, 20), die zum Beispiel aus einem Angeklagten einen Verurteilten macht. Zugleich befreit das Ritual die am Urteil Beteiligten von der Verantwortung für die Zukunft der vom Urteil betroffenen Personen (Meyer 2007, 250).
Schließlich sind Gerichtsrituale auch dazu geeignet, eine prozessrechtskonforme Durchführung des Verfahrens zu fördern. Symbolisch-rituelle Elemente markieren nämlich „den Rahmen, innerhalb dessen sich ein rechtliches Verfahren abspielt“ (Stollberg-Rilinger 2019, 148). Der Ablauf dieser Verfahren ist zwar in den Prozessordnungen geregelt. Doch Richterinnen und Richter lernen „vor allem durch die Beteiligung an anderen nach dem gleichen Modell ablaufenden Prozessen“, wie die entsprechende Prozessordnung anzuwenden ist (Wulf 2003, 34). Die Rituale des Gerichtsprozesses zeichnen „als eine Art Skript die Handlungen der Teilnehmer […] vor“, denn sie sind in hohem Maße formalisiert und werden regelmäßig wiederholt (Schwarte 2019, 137). Christoph Wulf verweist darauf, dass der rituelle Charakter des Prozesses so stark ausgeformt ist, dass aus seiner Nichtbefolgung leicht Verfahrensfehler entstehen, die zu einer Revision führen können (Wulf 2003, 33). „Die korrekte Inszenierung und Aufführung des Prozessrituals“ sei deshalb für die „Geltung der Wahrheits- und Urteilsfindung notwendig“ (ebd., 33 f.).
Quellen
Rechtsquellen
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Zitiervorschlag
Stefan Arnold, Leon Fried, Hanna Luise Kroll, Kerstin Wilhelms (2022): Inszenierung, in: Thomas Gutmann, Eberhard Ortland, Klaus Stierstorfer (Hgg.), Enzyklopädie Recht und Literatur,
doi: 10.17879/71089505014
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