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Der polnische Kriminalroman

Stand 7. April 2022

poln. polska powieść kryminalna, engl. Polish crime fiction

Der Kriminalroman (nach dem Muster der Detektivgeschichte) etablierte sich als eigenständige Gattung in der polnischen Literatur vergleichsweise spät, nämlich in der ersten Hälfte des 20. Jhs. Wie jüngere Forschungen zeigen, reicht seine Genese jedoch weit ins 19. Jh. zurück, als sich bemerkenswerte Vor- und Frühformen ausbildeten. Wesentliche Impulse gingen dabei von westeuropäischen, insbesondere französischen und britischen Vorbildern aus. Aufgrund fundamental andersartiger politischer, sozialer und kultureller Voraussetzungen, die sich maßgeblich auch auf die Sphären Recht und Literatur auswirkten, handelt es sich bei den polnischen Nachahmungen meist nicht um schlichte Kopien, sondern vielmehr um kreative Aneignungen: Insbesondere in Zeiten, die von Fremdherrschaft und eingeschränkter Eigenstaatlichkeit geprägt waren, standen polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor der grundsätzlichen Frage, wie Ermittlungs- und Justizinstanzen als zentrales Element des Kriminalromans literarisch überhaupt dargestellt werden können, ohne damit fremdes Recht und oftmals repressiv auftretende Behörden zu affirmieren.

1. Vor- und Frühformen im 19. Jahrhundert

Verbrechenssujets im weiteren Sinne lassen sich sicherlich für alle Epochen der polnischen Literaturgeschichte nachweisen. Anders als etwa im Fall der französischen Literatur mit Émile Gaboriaus L'Affaire Lerouge von 1865 ist allerdings kein exakter Zeitpunkt, kein bestimmter Text oder Autor auszumachen, der die Geburtsstunde des polnischen Kriminalromans im engeren Sinne markieren könnte. Marta Ruszczyńska zufolge ist jedoch eine Annäherung mittels einiger aus der Abenteuerliteratur (literatura przygodowa-awanturnicza) erwachsener Textgruppen möglich, die als Vor- oder Frühformen des Kriminalromans in Frage kommen (Ruszczyńska 2018, 14). Spätestens in der polnischen Spätromantik rücken Kriminalfälle und deren Aufklärung vielfach ins Zentrum literarischer Texte: so etwa in einigen Werken der retrospektiv als ‚Warschauer Bohème‘ (Cyganeria Warszawska) titulierten Künstlergruppe, der Autoren wie Zenon Sierpiński, Józef Symeon Bogucki und Włodzimierz Wolski angehörten (Ruszczyńska 2019, 27–48).

Als unmittelbarer Prototyp des polnischen Kriminalromans kann schließlich auch der sog. Geheimnisroman (powieść tajemnic) angesehen werden, der wesentlich auf die Rezeption der 1844 ins Polnische übertragenen Mystères de Paris von Eugène Sue zurückzuführen ist. Zwar warnten polnische Literaturkritiker seinerzeit eindringlich vor den vermeintlich demoralisierenden Eigenschaften solcher Texte. Beim polnischen Lesepublikum erzielten Sues Bücher jedoch enorme Erfolge, die einen lukrativen Markt auch für zahlreiche heimische Nachahmer eröffneten. Bereits in den 1840er Jahren schrieb etwa Józef Dzierzkowski (1807–1865) mehrere an Sues „Mystères“ angelehnte Romane, für die er meist Lemberg als primären Handlungsort auswählte. Anders als in den zur selben Zeit erschienenen Detektivgeschichten von Edgar Allan Poe geht es in Dzierzkowskis Romanen allerdings noch weder um rätselhafte Kapitalverbrechen noch um deren Auflösung durch einen genialen Ermittler. Vielmehr fächern die Texte kriminogene Milieus voller „Machenschaften und Betrügereien“ auf, in denen es u.a. um familienrechtlich relevante Fragen wie Mitgiften und Erbschaften und mit ihnen verbundene kriminelle Handlungen geht, die in letzter Konsequenz mitunter zum Tod unschuldiger Opfer führen (Ruszczyńska 2016, 67). Geheimnisromane nach diesem Muster blieben bis weit in die 1880er Jahre populär und lebten von der Befriedigung eines gewissen Sensationsbedürfnisses, wesentlich aber auch von ihrem Lokalkolorit. Größere Bekanntheit erfuhren beispielsweise Michał Bałuckis Tajemnice Krakowa (1870, Die Geheimnisse von Krakau) und Adolf Dygasińskis Nowe tajemnice Warszawy (1887, Neue Geheimnisse von Warschau).

Seit Mitte des 19. Jhs. kann für Polen auch eine verstärkte Produktion faktual orientierter Kriminalliteratur verzeichnet werden, deren Verwobenheit mit der Genese des Kriminalromans bislang nicht systematisch untersucht worden ist. So berichtete die Presse regelmäßig über in- und ausländische Kriminalfälle und Gerichtsprozesse, die beim Lesepublikum eine rezeptive Gewöhnung an Verbrechenssujets zur Folge hatte (Pawlak-Hejno 2014, 110 f.). Auch Autor:innen von Kriminalromanen griffen nicht selten auf Presseberichte über reale Kriminalfälle wie auch auf Pitavalerzählungen zurück. In ihren literarischen Bearbeitungen ästhetisierten sie die Schilderungen jedoch erheblich und schwächten sie in ihrer Drastik und Brutalität ab, womit sie nicht zuletzt die bis ins frühe 20. Jh. auf Kriminalitätsdarstellungen anspringende Sittenzensur antizipierten (Ruszczyńska 2019, 295). Besonderes Aufsehen erregten Ende der 1860er Jahre etwa der Fall Barbara Ubryk und die zahlreichen zwischen Fakt und Fiktion oszillierenden Erzählungen darum. Das enge Wechselverhältnis von Presse und Kriminalliteratur zeigte sich darüber hinaus auch in dem Umstand, dass die frühen Kriminalromane meist zunächst in Zeitungsfolgen gedruckt erschienen, um den Geschmack der Leserschaft hinsichtlich der neuen Gattung zu erkunden, bevor sie – im Erfolgsfall – in Buchform auf den Markt gebracht wurden (Ruszczyńska 2019, 91).

Neben Zeitungen thematisierten auch die bis ins 20. Jh. populären ‚Kolportage-‘ bzw. ‚Zeitungslieder‘ (pieśni nowiniarskie) spektakuläre Verbrechen, und zwar zumeist innerfamiliäre Tötungsdelikte. Zudem erschienen um 1850 die ersten ‚Pitavale‘ in polnischer Sprache, die ebenfalls personelle und inhaltliche Nähe zum aufkommenden Kriminalroman aufweisen. Unter dem Pseudonym Felix Górski veröffentlichte Henryk Emanuel Glücksberg (1802–1870), der zuvor Sues „Mystères“ ins Polnische übersetzt hatte, 1848 eine auf dem deutschsprachigen „Neuen Pitaval“ von Julius Eduard Hitzig und Wilhelm Häring basierende Sammlung literarisierter Kriminalfälle. Während Glücksbergs Pitavalsammlung noch ausschließlich Fälle aus dem westlichen Ausland enthält, veröffentlichte Ludwik Tripplin (1814–1864) 1852 eine sechsbändige Zusammenstellung von sowohl ausländischen als auch polnischen Strafprozessen, die damit als ‚erster polnischer Pitaval‘ gilt.

Größere Bekanntheit als Ludwik Tripplin erlangte seinerzeit dessen Bruder Teodor Tripplin (1812–1881), der neben seiner ärztlichen Tätigkeit auch als Schriftsteller auftrat (Milewski 2011, 205). In auffälliger chronologischer Nähe zum Pitaval des Bruders veröffentlichte Teodor Tripplin mehrere Romane, die Anleihen aus der französischen (Kriminal-)Literatur enthalten und zu den frühen Versuchen des polnischen Kriminalromans zählen (Ruszczyńska 2019, 48–53). Der Kriminalroman im Sinne des Detektivromans bildete sich in der polnischen Literatur andeutungsweise ab den 1870er Jahren aus und verbindet sich eng mit den Strömungen des Realismus und Naturalismus, deren Vertreter:innen sich nicht zuletzt der Darstellung als pathologisch begriffener Zustände, und zwar explizit auch im Zusammenhang mit Verbrechen, verpflichtet fühlten (Stachura-Lupa 2013; Pawlak-Hejno 2014; Ruszczyńska 2016).

Die zögerliche Entwicklung des frühen polnischen Kriminalromans muss in gesellschaftspolitischer Hinsicht vor dem Hintergrund der Teilungen Polens und den damit einhergehenden Fremdherrschaften sowie teilweise erheblichen Tendenzen zur Germanisierung und Russifizierung der polnischen Gesellschaft betrachtet werden: Als spezifische Herausforderung erwies sich die als patriotische Pflicht angesehene Aufgabe, die häufig als repressiv erlebten Rechtsordnungen der Teilungsmächte und deren Polizei- und Justizbehörden literarisch auszusparen, um sie nicht als Mittel zur (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit anzuerkennen (Ihnatowicz 1993, 120; Ruszczyńska 2019, 11). Anders als in Frankreich, Großbritannien und den USA konnte der Polizeiermittler als Vertreter des staatlichen Rechtsapparats in Polen seinerzeit folglich nicht zu einer populären literarischen Figur avancieren (Cegielski 2015, Vorwort). Die Atmosphäre in dem unter autoritativen Monarchien aufgeteilten Land inspirierte polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller im 19. Jh. daher nur selten zum Verfassen von Kriminalromanen (Frużyńska 2017, 84).

Allerdings lassen sich in dieser Hinsicht interessante Ausnahmen vermerken: Als einer der wichtigsten Vertreter des polnischen Positivismus veröffentlichte Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887) 1872 unter dem Titel Sprawa kryminalna (Der Kriminalfall) einen frühen Kriminalroman, der – verwoben mit einer unglücklichen Liebesgeschichte – das juristische Problem der Vortäuschung einer Straftat literarisch entfaltet (Ihnatowicz 2011, Ruszczyńska 2019: 89–99, Sproede 2019: 14–20). Der Roman enthält einige für den Detektivroman charakteristische Komponenten – den Verdacht auf ein Verbrechen, darauf folgende Ermittlungen, die Auflösung des Rätsels –, zugleich fehlt jedoch als zentrales Element eine Tat wie auch die mit ihr verbundenen Akteure, d.h. Täter und Opfer. Der von Kraszewski von Anfang an als „powiastka“ ironisierte Text wird in der Forschung daher auch als ‚Antikrimi‘ (antykriminał) angesehen (Ihnatowicz 2011). Um dem Problem der (positiven) Darstellung der russischen Ermittlungs- und Justizbehörden (nach dem Januaraufstand und der sich daran anschließenden Russifizierung), der „heiklen und anstößigen Frage des Verhältnisses zwischen der polnischen Bevölkerung und dem russischen Recht, Gerichtswesen und Behörden“ (Ihnatowicz 2011, 121) zu entgehen, verlegt Kraszewski die Romanhandlung zeitlich vor, und zwar in die 1820er Jahre, und örtlich aufs Land, wo sich die Russifizierung, auch im Justizapparat, weniger ausgeprägt darstellte als in den Städten.

Eine äußerst interessante Wiederentdeckung (Sadlik 2018) im Kontext des frühen polnischen Kriminalromans stellt auch Eliza Orzeszkowas Roman Na dnie sumienia (Auf dem Grund des Gewissens) dar, der ebenfalls 1872 zunächst in Zeitungsfolgen und wenig später in Buchform publiziert wurde. Orzeszkowa hatte sich pikanterweise einige Jahre zuvor in ihrem programmatischen Aufsatz „Kilka uwag nad powieścią“ (1866, Einige Anmerkungen zum Roman) negativ über Sue und dessen Nachahmer:innen geäußert und setzte in „Na dnie sumienia“ ihre Kritik am sog. Geheimnisroman fort, indem sie sich in polemischer Absicht selbst auf dessen Muster und Konventionen einließ (Sadlik 2018, 59). Inhaltlich thematisiert Orzeszkowas Roman – allerdings unter Vermeidung explizit blutiger Szenen – die Machenschaften einer Betrügerbande, die letztlich zum Verbrechen und gerichtlichen Fehlurteilen mit teilweise tödlichem Ausgang gegen Unschuldige führen. Besonderes Augenmerk widmet die Autorin den Motiven der Protagonisten: Während Sue die Gründe für Kriminalität v.a. in der Armut sucht, findet Orzeszkowa andere Ursachen, nämlich erstens angeborene Prädisposition, zweitens Verbitterung durch unerfüllte Ambitionen und drittens überzogene finanzielle Erwartungen innerhalb der Familie (Sadlik 2018, 53). Darüber hinaus geht Orzeszkowa den moralischen Implikationen der Verbrechen wie auch psychologischen Mechanismen der Gewissensbildung nach, wobei sie das Kriminalitätssujet im Sinne eines moralisierenden Tendenzromans nutzt (Skorupa 2019, 145).

Als einer der Wegbereiter des polnischen Kriminalromans nach dem Modell des Detektivromans gilt schließlich der Historiker und zeitgenössisch vor allem für seine Jugendromane bekannte Schriftsteller Walery Przyborowski (1845–1913), der auch unter dem Pseudonym Zygmunt Lucjan Sulima schrieb. Seine seit den 1870er Jahren publizierten Romane tragen zwar noch unverkennbare Züge der Schauer- und Geheimnisliteratur, folgen ansonsten jedoch weitgehend den Regeln der modernen Detektivgeschichte (Pawlak-Hejno 2014, 116). Thematisch bediente sich Przyborowski, der auch als Autor der Auslandschronik einer Zeitung über Kriminalfälle schrieb, ausdrücklich realer Begebenheiten: Als Quellen dienten ihm zum einen Presseberichte; zum anderen verwendete er – wie die Untertitel zweier seiner Romane anzeigen – auch Gerichtsakten als Material für seine Romane. Um die Ermittlungsfiguren nicht aus den russischen Behörden zu rekrutieren, setzt Przyborowski Amateurermittlerfiguren, etwa in der Gestalt polnischer Notare und Gerichtsbeamter, ein und umgeht damit den staatlichen Ermittlungsapparat. In seinem Roman Noc z 3 na 4 grudnia (1875, Die Nacht vom 3. auf den 4. Dezember) liegt gar ein auf dieser Basis entstandener „juristischer Anachronismus“ vor: So handelt die Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jhs., während der Ermittlungsrichter mit Kompetenzen ausgestattet ist, die ihm erst mit der Gerichtsreform in der zweiten Jahrhunderthälfte zukamen (Ruszczyńska 2019, 160). Mit Marta Ruszczyńska kann die explizite Abwesenheit des russischen Herrschaftsapparates und seiner Rechtsorgane als eine Form des literarischen Protests gegen die Teilungsmacht interpretiert werden (Ruszczyńska 2016, 64 f.).

Während in allen drei Teilungsgebieten weiterhin auch westeuropäische Kriminalromane in ihren Ausgangssprachen kursierten, erschienen in den 1870er Jahren v.a. in Lemberg und Warschau erste polnische Übersetzungen der Romane von Wilkie Collins und Émile Gaboriau. Diese stießen auf ein interessiertes polnisches Lesepublikum, zugleich aber auch auf eine tendenziell negative Haltung der Literaturkritik. Der Vorwurf lautete erneut, Kriminalliteratur betreibe mit der Darstellung von Brutalität und Grausamkeit Effekthascherei und sei im Grunde amoralisch (Stachura-Lupa 2013, 19 f.). Ähnliche Warnungen fanden sich darüber hinaus auch in der juristischen Presse: Die Lemberger ‚Gerichts- und Verwaltungsrundschau‘ (Przegląd Sądowy i Administracyjny) etwa konstatierte 1884, die Kriminalliteratur adele Verbrecher und führe zu praktischer Nachahmung (Kryminał w literaturze 1884; Ruszczyńska 2016, 73).

Gaboriaus Detektivromane mit der Figur des Inspektor Lecoq inspirierten maßgeblich den Schriftsteller und promovierten Juristen Kazimierz Chłędowski (1843–1920), der 1872 in Krakau den Roman Po nitce do kłębka (Über den Faden zum Knäuel) veröffentlichte. Neben mehreren Handlungsorten in Galizien (v.a. Lemberg und Krakau, aber auch in der polnischen Provinz) führt der Plot in weitere europäische Städte und Regionen (Florenz, Wien, Ungarn), arbeitet aber weitgehend mit polnischen Realia. Anders als seine Schriftstellerkolleg:innen im russischen (und preußischen) Teilungsgebiet, konnte Chłędowski, der als Beamter zunächst in Lemberg und später in Wien tätig war, im vergleichsweise liberalen und autonomen Galizien umfassenden Gebrauch von den tatsächlichen Gegebenheiten im Polizei- und Justizbetrieb machen: So entstammen die Romanfiguren überwiegend dem kleinbürgerlichen und Beamtenmilieu, die gesuchte Mörderin hingegen dem polnischen Adel. Der (ebenfalls polnische) Ermittlungsrichter Kręcikowski verzettelt sich zwar bald schon im Fall; die Figur des Kommissar Mordner hingegen löst ihn mittels Deduktion und Fleiß – und erhofft sich neben Beförderung und Gehaltserhöhung die Heirat mit der Tochter eines Gerichtsbeamten. Seinen Protagonisten verleiht Chłędowski allerdings weder Charisma noch besondere Fähigkeiten und zeichnet damit ein tendenziell realistisches Bild des Lemberger Justizmilieus mit satirischen Untertönen und belehrendem Beiwerk (Ruszczyńska 2016, 71 f.).

Im ausgehenden 19. Jh. wuchs das Interesse am Kriminalroman in Polen stetig, wenngleich eine gewisse Skepsis anhielt und die Gattung vor allem unter Literaturkritikern nach wie vor als minderwertig galt. In diesem Zusammenhang gab es 1896 gar einen realen Kriminalfall: Aufgrund eines Verrisses von Władysław Grajnerts Zbrodniarz (Der Verbrecher) durch Władysław Buchner in der Warschauer Satirezeitschrift Mucha kam es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, bei der der glücklose Krimiautor Grajnert – offenbar aufgrund der Notwehr seines Rezensenten – durch einen Bauchschuss niedergestreckt wurde (Siewierski 1979, 136 f.). Der Fall Grajnert/Buchner wiederum gab im Nachgang selbst die Vorlage für mehrere literarische Darstellungen ab, u.a. für eine der Geschichten in Stanisław Szenics Warszawski pitaval (1957, Warschauer Pitaval).

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass um die Jahrhundertwende neben dem sich ausbildenden Kriminalroman nach dem Muster der Detektivgeschichte in Polen auch weiterhin die verwandte Gattung des Schauerromans große Popularität genoss. Selbst literarische Größen wie der spätere Nobelpreisträger Władysław Reymont (1867–1925), der vor allem durch seine dem Realismus verpflichteten Romane Ziemia obiecana (1897/98, Das gelobte Land) und Chłopi (1902–1908, Die Bauern) bekannt geworden war, erkundeten dieses Genre. Unter Rückgriff auf romantische Stilelemente fängt Reymont in seinem Roman Wampir (Der Vampir, 2010 [1911]) die Stimmung des Fin de Siècle ein, indem er u.a. eigene biographische Erfahrungen mit seinerzeit verbreiteten okkultistischen Praktiken literarisch verarbeitet: Vor der Kulisse eines rätselhaften, labyrinthartigen, nebeligen London gerät die Hauptfigur, der aus Polen emigrierte Schriftsteller Zenon, als Teilnehmer an spiritistischen Séancen zunehmend in den Sog der vampirhaften Daisy, die ihn in eine gleichermaßen unwirklich-traumhafte wie anrüchig-kriminelle Parallelwelt entführt, ihn dabei schrittweise um sein bürgerliches Leben bringt und schließlich zu satanistischen Praktiken verleitet. Der Roman erschien seit 1904 unter dem Titel We mgle (Im Nebel) in mehreren Zeitungen sowie 1911 in einer erweiterten Buchfassung unter seinem später geläufigen Titel Wampir (Mazurkiewicz 2010, 190).

2. Detektiv- und Gerichtsromane im frühen 20. Jahrhundert

Im frühen 20. Jh. verbreiteten sich weiterhin in allen drei Teilungsgebieten in rascher Abfolge Übersetzungen westlicher Kriminalromane, darunter ganze Serien von Sherlock Holmes-Geschichten, die allerdings überwiegend gar nicht mehr aus der Feder Conan Doyles, sondern von meist unbekannten Nachahmer:innen stammten (Martuszewska 2006, 469). Daneben waren auch originär polnische Kriminalromane populär, etwa Kazimierz Niemierowskis Przypadek czy zbrodnia? (1879, Zufall oder Verbrechen?) und Handlarze (1902, Die Händler) wie auch Kazimierz Laskowskis Agent policyjny. Z papierów po Hektorze Blau (1907, Der Polizeiagent. Aus dem schriftlichen Nachlass von Hektor Blau).

Zu den sicherlich interessantesten Entdeckungen aus der Zeit der Jahrhundertwende gehört Gabriela Zapolskas Kriminalroman Kwiat śmierci (1903, Die Blume des Todes), der unter dem Pseudonym Walery Tomicki in Zeitungsfolgen erschien. Zapolska nahm den Auftrag zwar in erster Linie aus finanziellen Beweggründen an und versuchte, allerdings vergeblich, ihre Autorschaft geheim zu halten. Dennoch schuf sie einen respektablen frühen polnischen Kriminalroman, indem sie die grundlegenden Elemente einer gewöhnlichen Detektivgeschichte ausbuchstabiert, ohne dabei in Schablonenhaftigkeit zu verfallen. So stellt sie dem ermittelnden Polizeiagenten Florian Mick, der den sprechenden Beinamen Ślimak (Schnecke) trägt und lediglich am Fall arbeitet, um das Herz seiner Angebeteten zu gewinnen, die Figur des Schwarzen Antek, den gutmütigen, zugleich aber auch schelmischen Anführer einer Jugendbande, zur Seite. Während der Mörder der aus der Rudawa angeschwemmten schönen Leiche (mindestens für die Leser und Leserinnen) bald schon offenkundig ist, verfolgt Zapolska in ihrem Roman noch eine ganz persönliche Agenda: Das von ihr ungeliebte Krakau wählt sie nicht nur als Kulisse für einen an sich „importierten“ Kriminalfall, sondern inszeniert die Stadt selbst als provinziell und schmutzig, ihre Bewohner als kleinbürgerlich und moralisch verkommen (Gląb 2021).

Als erster polnischer Gerichtsroman gilt Leo Belmonts Sprawa przy drzwiach zamkniętych (1910, Unter Ausschluss der Öffentlichkeit), dessen Auflösung der Autor in Form eines Gerichtsurteils erst in der Fortsetzung Pomiędzy sądem i sumieniem (1911, Zwischen Gericht und Gewissen) inszeniert. Der Warschauer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Publizist Belmont (Leopold Blumental, 1865–1941) veröffentlichte darin im Anschluss an seine Rückkehr nach Polen ein literarisch verdichtetes Kondensat seiner zwölfjährigen Erfahrungen im Petersburger Rechtsbetrieb, den er – nicht ohne ironische Zwischentöne – einer massiven Kritik unterzieht. Zugleich greift er hier das fundamentale Problem menschlicher Erkenntnis und Wahrheitsfindung auf und konkretisiert deren enge Grenzen anhand einer zwar fiktiven, zugleich jedoch auf größtmögliche Authentizität ausgerichteten Fallkonstruktion (Żmudziak 2016). Belmonts Roman thematisiert einen Indizienprozess vor dem Geschworenengericht, in dem der sexuelle Missbrauch eines Kindes verhandelt wird. Neben den grotesk anmutenden Rekonstruktionsversuchen des Tatabends rücken dabei vor allem die Persönlichkeit des Angeklagten, dessen Ehe, sexuelle Neigungen und soziale Beziehungen ins Zentrum des Prozesses. Im Zuge der Erforschung der psychischen und moralischen Verfasstheit des Angeklagten misst das Gericht den in großer Zahl geladenen Zeuginnen und Zeugen und deren widersprüchlichen Aussagen einen außerordentlich hohen Stellenwert bei, während psychologische Sachverständige nicht herangezogen werden. In der ebenfalls auf seiner juristischen Erfahrung basierenden nicht-fiktionalen Schrift O potrzebie ekspertyzy psychologicznej (1912, Über die Notwendigkeit psychologischer Expertise) setzte Belmont seine Kritik am Petersburger Gerichtswesen fort.

Unter den mehr als 100 Publikationen Leo Belmonts finden sich noch mindestens zwei weitere dem Kriminalgenre zuzuordnende Romane: Djablica (1922, Die Teufelin) beruht auf derselben Geschichte wie Otto Soykas Das Glück der Edith Hilge (1913), was Belmont in einem der Fiktion von Authentizität dienenden Framing auf eine gemeinsame Quelle zurückführt. Während Soyka allerdings seinen Leser:innen die Auflösung des Falls im Kontext eines Preisausschreibens überließ, bietet Belmonts Roman eine ‚Lösung‘ an. Auch der dreibändige, von Belmont selbst als ‚philosophisch‘ deklarierte Kriminalroman Konieczność, przypadek czy wolna wola? (1927, Notwendigkeit, Zufall oder freier Wille?) erscheint im Kontext von Recht und Literatur einer Betrachtung wert, hat aber – ebenso wie Djablica – bislang noch nicht die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden.

3. Die „goldene Ära“ in der Zwischenkriegszeit (1918–1939)

Die Entwicklung des Kriminalromans in der Zwischenkriegszeit erfolgte vor dem Hintergrund der wiedererlangten staatlichen Eigenständigkeit und der damit verbundenen Vereinheitlichung, Kodifizierung und Durchsetzung polnischen Rechts. Die nun erheblich günstigeren gesellschafts- und kulturpolitischen Umstände, aber auch die internationale Blüte des Detektivromans ebneten dem polnischen Kriminalroman den Weg in seine „goldene Ära“ (Skotarczak 2019, 20). Zur Entwicklung des polnischen Kriminalromans seit 1918 konstatiert Joanna Frużyńska:

Das parlamentarische Staatswesen – auch wenn die Demokratie schutzbedürftig, die Republik von Korruption durchdrungen ist und vollkommen der Macht einflussreicher Krimineller unterliegt – ist […] ein Umfeld, in dem sich der Kriminalroman entfalten kann. Fügen wir hinzu: in einer von zwei Varianten, nämlich jener, die die bestehende Gesellschaftsordnung affirmiert, oder jener, die die vorfindliche Situation infragegestellt. Der polnische Kriminalroman ist nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens entstanden, ist aufgeblüht und hat sich ausdifferenziert. Ich möchte an dieser Stelle vorwegnehmen, dass alle mir bekannten Kriminalromane aus der Zwischenkriegszeit, und zwar unabhängig von der eigentlichen Handlung, zur ersten, affirmativen Variante des Krimis gehören: Ihre Botschaft ist der Glaube an die Macht der Vernunft, an Wahrheit und Gerechtigkeit, die Beständigkeit der demokratischen Ordnung sowie die Glaubwürdigkeit des polnischen Staates. (Frużyńska 2017, 84; Übersetzung: M.F.)

Als einer der ersten erfolgreichen Krimiautor:innen der Zwischenkriegszeit trat der aus Lemberg stammende Jurist und Journalist Aleksander Błażejowski (1890–1940) auf. Sein Erstlingswerk Czerwony Błazen (1925, Der Rote Clown), das häufig als erster polnischer Kriminalroman im engeren Sinne angesehen wird, erzählt nach französischem Muster die Geschichte eines toten Kabarettisten, der zu Lebzeiten Politiker und Emporkömmlinge verspottet hatte. Der Roman wurde 1926 von Henryk Szaro (1900–1942) verfilmt und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zweimal neuaufgelegt (Dąbrowska u.a. 2017, 13). Bevor Błażejowski 1934 die Anwaltskanzlei seines Vaters übernahm und 1940 in einem sowjetischen Straflager starb, veröffentliche er mindestens sechs weitere Kriminalromane.

Zu den produktivsten und bekanntesten polnischen Krimiautoren der Zwischenkriegszeit zählen Adam Nasielski (1911–2009), Antoni Marczyński (1899–1968) und Marek Romański (eigentl. Marek Dąbrowski, 1906–1974), die in diesem Kontext häufig als ‚Großes Dreigespann‘ (wielka trójka) tituliert werden und augenfällige Gemeinsamkeiten haben: Alle drei verfügten über einen juristischen Hintergrund und alle drei emigrierten in den 1930er und 40er Jahren nach Übersee. Trotz ihrer großen Popularität in der Zwischenkriegszeit gerieten sie – wie im Übrigen auch Aleksander Błażejowski und viele weitere Schriftsteller:innen – in den folgenden Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit, da ihre Romane in der Volksrepublik Polen aus politisch-ideologischen Gründen nicht erscheinen durften und erst seit den 1990er Jahren nachgedruckt werden. Während die Kriminalromane des Schriftstellers und Juristen Antoni Marczyński und des Journalisten Marek Romański, der ebenfalls einige Semester Jura studiert hatte, überwiegend außerhalb Polens angesiedelt sind und sich durch Exotik und Abenteuerlichkeit auszeichnen, spielen Adam Nasielskis Romane größtenteils im zeitgenössischen Polen und thematisieren Recht und Justiz der Zweiten Republik.

Der Kriminologe Nasielski, der nach seinem Jurastudium in Warschau und dem Abschluss seiner Promotion in den USA zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zunächst nach Polen zurückgekehrt war, veröffentlichte in den 1930er Jahren sowie nach seiner Emigration nach Australien Ende der 1940er Jahre – teilweise unter dem Pseudonym Bill Tramp – mehr als 50 Kriminalromane. Aufgrund seiner literarischen Nähe zu Edgar Wallace, zu dem er selbst vielfach literarische Bezüge herstellt, wurde er häufig als „polnischer Wallace“ apostrophiert (Ziemka 2017, 144). In seinen Kriminalromanen der 1930er Jahre entwirft Nasielski ein idealisiertes Bild der polizeilichen Ermittlungsbehörden, die er explizit auf seine beruflichen Erfahrungen im Gerichts- und Polizeiwesen stützt. Trotz der mitunter ausführlichen Darstellung moderner, auf psychologischen Erkenntnissen beruhender Ermittlungsmethoden sowie Bezugnahmen etwa auf die von Cesare Lombroso begründete und seinerzeit unter anderem von Leon Radzinowicz fortgeführte Kriminalanthropologie rückte Nasielski die Unterhaltungsfunktion seiner Romane stets ausdrücklich in den Mittelpunkt (Ziemka 2017, 148–150). Die größten Erfolge brachte ihm die neunbändige Reihe Wielkie gry Bernarda Żbika (1933–37, Die großen Spiele des Bernard Żbik) um die Hauptfigur des weithin bekannten Inspektors Żbik ein, die in den Jahren 2013 bis 2017 vollständig neu aufgelegt wurde.

Neben zahlreichen Romanen, die nun weitgehend den inzwischen international etablierten Mustern der Detektivgeschichte folgten, entstanden in der Zwischenkriegszeit auch Texte, die in explizit parodistischer Absicht mit den Gattungskonventionen spielen. Zu den prominentesten Erzählungen dieser Art gehört Witold Gombrowiczs Zbrodnia z premedytacją (1989, 2005 [1928], Verbrechen mit Vorsatz), die die Ermittlungen zu einem gar nicht stattgefundenen Verbrechen inszeniert: So stößt der Ich-Erzähler, ein Ermittlungsrichter, hier eher zufällig auf eine Leiche, die zwar zunächst keinerlei Anzeichen für ein Verbrechen aufweist. Mit seinen Nachforschungen und Verdächtigungen treibt er den Sohn des Verstorbenen letztlich jedoch dazu, dem toten Vater nachträglich die zur ‚Beweisführung‘ der nie begangenen Tat ‚notwendigen‘ Würgemale beizubringen. Gombrowicz, der vor seiner Tätigkeit als Schriftsteller Rechtswissenschaft studiert und sein Referendariat im Gericht mit der schriftlichen Aufarbeitung polizeilicher Ermittlungsergebnisse zugebracht hatte (Król 2017, 186), parodiert mit Zbrodnia z premedytacją nicht nur in ironisch-humoristischer Weise das Kriminalgenre. Vielmehr führt er darüber hinaus die narrative Schablone der Strafprozessordnung ad absurdum, die er während seiner bald schon aufgegebenen Juristenlaufbahn als lebensferne Konstruktion erfahren hatte, in die es die Realität unter Auslassung vermeintlich irrelevanter Fakten um jeden Preis einzupassen galt.

Ein weiteres Beispiel für das Spiel mit dem Genre (wie auch mit den Leserinnen und Lesern) ist der „Wilnaer Kriminalroman“ („Wileńska powieść kryminalna“), der im März und April 1933 in der konservativen Zeitung Słowo erschien, die seit Mitte der 1920er Jahre regelmäßig auch Detektivgeschichten abdruckte. Beim „Wilnaer Kriminalroman“ handelt es sich um eine gesellschaftspolitische Satire im Mantel des Detektivromans, um einen Pastiche in satirisch-humoristischer Manier. Seine vermeintliche Autorin Felicja Romanowska wurde in einem fingierten Biogramm als junge Feministin, ja sogar als Entdeckung Zofia Nałkowskas präsentiert. In Wahrheit verbargen sich allerdings vier mit dem Słowo verbundene Journalisten, nämlich Józef Mackiewicz, Stanisław Mackiewicz, Walerian Charkiewicz und Jerzy Wyszomirski (Wyszomirski war auch Berichterstatter im Fall Rita Gorgonowa) hinter dem Pseudonym, bekannten sich jedoch erst Jahre später dazu (Bujnicki 2016, 131 f.). Der Roman enthält vordergründig alle wesentlichen Elemente des Kriminalromans: Im Zentrum steht die Entführung der Tochter des Wilnaer Wojewoden, der ermittelnde Kommissar ist den unbekannten Tätern auf der Spur, gerät auf verschiedene falsche Fährten und deckt dabei kommunistische Verschwörungen auf. Schon bald offenbart der Roman allerdings seinen „spielerischen und pamphlethaften Charakter“. Das Verbrechen entpuppt sich als eigentlich recht harmlos, und es geht vielmehr um die Abrechnung mit der Wilnaer Gesellschaft, um die Gegner des Słowo, um die provinziellen Wilnaer Verhältnisse, und zwar in der Art eines Schlüsselromans: Zeitgenössische Leser:innen konnten leicht die gemeinten Orte und Personen entziffern, die vor allem den Verwaltungs-, Wissenschafts- und Kultureliten entstammten (Bujnicki 2016, 133–135). Nicht zuletzt aus diesem Grund verzeichnete der Roman enorme Publikumserfolge und erschien noch im selben Jahr in Buchform. Am Ende wird das Spiel mit den Gattungskonventionen des Kriminalromans schließlich noch auf die Spitze getrieben: Anstelle einer eindeutigen werden zwei alternative Lösungen des „Falls“ angeboten, die (mindestens) zwei verschiedene Lesarten des Romans zulassen.

Dass der Kriminalroman sich in den 1930er Jahren als eigene Gattung vollständig durchgesetzt hat, lässt sich allerdings nicht nur an den Romanen selbst und dem vermehrten Aufkommen von Parodien, sondern auch an einer ersten Monographie zum Genre ablesen: 1932 veröffentlichte der Schriftsteller und Literaturhistoriker Stanisław Baczyński (1890–1939) eine literaturgeschichtliche Abhandlung, in der er zunächst vor allem die westeuropäischen Traditionslinien ausleuchtet:

Der französische und englische Kriminalroman zeigt den Lesern die Wahrheit, dass Verbrechen in allen Schichten vorkommen und sich nicht auf die städtischen Gassen beschränken. Er verschont auch nicht seine Aristokratie oder sein Bürgertum und stellt alle vor das Tribunal der öffentlichen Meinung und des Rechts. Das ist ein Ergebnis einer wesentlichen und wahrhaftigen demokratischen Kultur. (Baczyński 1932: 96, Übersetzung: M.F.)

Erst danach geht er auf die Geschichte des polnischen Kriminalromans ein, kritisiert diesen – mit Ausnahme von Marczyńskis Biała trucizna (1931, Weißes Gift) – pauschal als minderwertig in Form, Sprache und Inhalt, und bezeichnet seine Autoren als „drittklassig“. Die uniformierte Polizei, so Baczyński, werde in polnischen Kriminalromanen verherrlicht, was vielleicht als ein Überbleibsel der zaristischen Tradition anzusehen sei. Die Ermittlerfiguren seien den Verbrecherfiguren intellektuell nicht überlegen, und darüber hinaus entstammten letztere stets niederen sozialen Schichten, was nur einer aristokratisch gesinnten Phantasie entspringen könne. Der polnische Kriminalroman sei damit un- oder gar antidemokratisch:

Der polnische Kriminalroman will [im Gegensatz zum westeuropäischen] glauben machen, Verbrechen entsprängen ausschließlich den Niederungen, werden in den Gossen ausgebrütet, und die Polizei habe nur in diesen Sphären zu tun. Es verbirgt sich darin ein antidemokratisches, unwillkürliches, gesellschaftlich unpädagogisches Streben, „seinen Adeligen zu schützen“, wie auch eine falsche Beurteilung unserer Rechtsorgane. Sowohl die tägliche Kriminalchronik in den Zeitungen als auch die sich in früheren Zeiten zugetragenen Affären um [den Baron Jan] Bisping, [den Grafen Bogdan] Ronikier und [den Pauliner Damazy] Macoch beweisen, dass unser [Kriminal-]Roman sogar der Wirklichkeit Unrecht tut […]. Der polnische Verbrecher hat keinen Beruf, steht im Roman außerhalb der Gesellschaft, obwohl eigentlich Bankiers, Rechtsanwälte, Politiker, Magistratsbeamte und Staatsmänner die interessantesten Verbrechertypen abgeben würden. (Baczyński 1932: 96 f., Übersetzung: M.F.)

Auch für die Zwischenkriegszeit muss die ausführliche Berichterstattung über reale Kriminalprozesse berücksichtigt werden, die sich insbesondere dadurch auszeichnete, dass sie die vielfach als literarisch wertvoll angesehenen Gerichtsreden oftmals in extenso abdruckte. Anfang der 1930er Jahre sorgte vor allem der Fall Rita Gorgonowa für enormes Aufsehen in der polnischen Öffentlichkeit. Neben einer umfangreichen Berichterstattung in der Presse diente der Fall als Vorlage für zahlreiche literarische und filmische Bearbeitungen, die sich in unterschiedlichem Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion bewegen. Wie etwa im Fall Jerzy Wyszomirskis und Marek Romańskis betätigten sich die Autoren dabei nicht selten auf verschiedenen Ebenen und schrieben sowohl Presseberichte als auch Kriminalromane.

4. ‚Pseudowestliche Krimis‘ und ‚Milizromane‘ in der Volksrepublik Polen

In der unmittelbaren Nachkriegszeit erschienen in Polen zunächst wieder sowohl Übersetzungen westeuropäischer als auch Nachdrucke älterer polnischer Kriminalromane, und auch an die beliebte Romanreihe „Co Tydzień Powieść“ (Jede Woche ein Roman) konnte zunächst angeknüpft werden. Zu den wenigen Neuerscheinungen zählen die von 1946 bis 1948 veröffentlichten Spionageromane Maciej Słomczyńskis, darunter der in Zeitungsfolgen erschienene Thriller Fabryka Śmierć (Die Fabrik „Tod“) um ein Schiffsunglück, eine Entführung und die Rettung der Welt vor einem von Adolf Hitler beauftragten Atombombenbauer. Nach einigen weniger bekannten Veröffentlichungen in den ersten Jahren Volkspolens reüssierte Słomczyński in den 1960er Jahren als ‚Joe Alex‘ mit westeuropäisch anmutenden Kriminalromanen sowie unter dem Pseudonym ‚Kazimierz Kwaśniewski‘ mit sog. Milizromanen (s.u.).

Erwähnenswert erscheint für diese Zeit auch der als ‚Polizeiroman‘ ausgewiesene Kriminalroman des Komponisten und Schriftstellers Stefan Kisielewski (1911–1991) von 1948: In Zbrodnia w Dzielnicy Północnej (Verbrechen im Nordviertel), der in einem fiktiven, jedoch deutlich an Polen angelehnten Staat spielt, kommt dem Polizisten Antoni Gromel bei den Ermittlungen im Fall eines ermordeten Chemieprofessor die Politische Polizei in die Quere und offenbart ihre fragwürdigen Methoden. Darauf aufbauend plante Kisielewski einen insgesamt zwölfbändigen Krimizyklus über die ‚gesellschaftlichen Plagen‘ im kommunistischen Polen (u.a. Alkoholismus, Rowdytum und Erotomanie), wovon er jedoch nur vier realisieren konnte. Die beiden Romane Miałem tylko jedno życie (1958, Ich hatte nur ein einziges Leben) und Kobiety i telefon (1960, Die Frauen und das Telefon) erschienen allerdings bereits unter dem Pseudonym ‚Teodor Klon‘ (Dąbrowska u.a. 2017, 51). Als „Oppositioneller und ständiger Gegner der sozialistischen Wirklichkeit“ hatte Kisielewski in der Volksrepublik inzwischen erhebliche Publikationsschwierigkeiten und veröffentlichte seine weiteren ‚politischen‘ Kriminalromane erst in den 1970er Jahren – nun unter dem Pseudonym Tomasz Staliński – im polnischen Emigrantenverlag ‚Instytut Literakki‘ in Paris (Skotarczak 2019, 24 f.).

Im Zuge der verschärften Ideologisierung aller gesellschaftlichen Sphären und der Verstaatlichung der Verlage Ende der 1940er Jahre wurde der Kriminalroman nach offizieller Doktrin als ‚bourgeois‘ gebrandmarkt und schließlich sowohl vom Buchmarkt als auch aus den Bibliotheken verbannt. Um Zustimmung aus der Bevölkerung zu solcher Zensur zu inszenieren, fingierten die zuständigen Behörden gar eine Umfrage unter den Leserinnen und Lesern, in der es suggestiv hieß: „Wie ist Deine Meinung über Kriminalromane? Findest Du nicht, dass diese Art der Lektüre eines kultivierten Lesers unwürdig ist?“ (Martuszewska 1993, 484). Literatur sollte fortan im Dienst der kommunistischen Ideologie stehen, am ‚Aufbau des Sozialismus‘ mitwirken und die Umsetzung der staatlichen Wirtschaftspläne vorantreiben (Skotarczak 2019, 26). Als schwacher Ersatz für den offiziell nun weitgehend abgeschafften Kriminalroman diente in den frühen 1950er Jahren die im Verlag des Verteidigungsministeriums herausgegebene ‚Kleine Bibliothek der Soldatenabenteuer‘ (Biblioteczka Przygód Żołnierskich), in der zunächst Übersetzungen sowjetischer Autorinnen und Autoren, dann aber auch originär polnische Titel erschienen.

Das faktische Verbot der literarischen Darstellung von Verbrechen und deren Aufklärung im Sinne des Kriminalromans gründete freilich nicht zuletzt auf der Propaganda des kommunistischen Regimes, der Sozialismus werde das Problem der Kriminalität endgültig lösen. Während des politischen Tauwetters ab 1955 und den damit einhergehenden Lockerungen im Kulturbetrieb wurde diese Utopie allerdings weitgehend aufgegeben, so dass bald schon neben zahlreich neu auf den Markt gebrachten Übersetzungen (v.a. Kriminalromane von Agatha Christie und Georges Simenon) auch wieder erste genuin polnische Neuerscheinungen zu verzeichnen waren. Als erster und wohl wichtigster poststalinistischer Kriminalroman gilt Leopold Tyrmands Zły (1955, Der Böse), der u.a. das Warschauer Untergrundmilieu und die diesem gegenüber bestehende Ineffektivität der staatlichen Ermittlungsbehörden thematisiert. Das Buch wurde äußerst kontrovers diskutiert, war zugleich jedoch ein enormer Publikumserfolg und daher in kürzester Zeit vergriffen. Mit seinen Erzählbänden Stary zegar (1956, Die alte Uhr) und Królewna?! (1956, Die Königin?!) erschuf zu dieser Zeit auch Andrzej Piwowarczyk (1919–1994) seine in den Folgejahren sehr bekanntgewordene Ermittlerfigur des Hauptmann Gleb. In der Tradition der Krimireihe „Co Tydzień Powieść“ wurden Kriminalromane nun v.a. in den – staatlich kontrollierten und subventionierten – Serien „Klub Srebrnego Klucza“ (Der Klub des Silbernen Schlüssels) und „Z Jamnikiem“ (Mit dem Dackel) verlegt. Beide Reihen versammelten sowohl ausländische als auch polnische Autor:innen, zudem bekamen hier neben etablierten Schriftsteller:innen auch Neulinge die Chance auf ein Debüt (Brylla 2019, 100).

Ebenfalls seit Mitte der 1950er Jahre konnte im sozialistischen Polen ein enormes Interesse an Pitavalsammlungen beobachtet werden. Inspiriert durch die Lektüre von Egon Erwin Kischs Prager Pitaval verfasste der Jurist Stanisław Szenic (1904–1987) den Pitaval warszawski (Warschauer Pitaval), dessen erster Band 1955 erschien. Sowohl Szenic als auch weitere Juristen, die in den Folgejahren ebenfalls Sammlungen von realitätsbasierten Kriminalgeschichten veröffentlichten, bezogen sich dabei ausdrücklich auf die von Gayot de Pitaval begründete europäische Tradition des Genres und gruppierten ihre Erzählungen, denen zumeist bereits historisierte Fälle zugrunde lagen, entweder regional (Warschau, Krakau, Breslau und andere Städte bzw. Regionen) oder thematisch (z.B. Tötungsdelikte unter Alkoholeinfluss oder Streitfälle im Zusammenhang mit literarischen Texten). Über den Umweg einer juristisch gebildeten Leserschaft fanden die Pitavalsammlungen rasch zu einem breiten Publikum, das die Geschichten tendenziell im Sinne von Unterhaltungsliteratur – ähnlich dem Kriminalroman – konsumierte. Stammten die ersten Pitavalsammlungen aus der poststalinistischen Phase noch ausschließlich von Jurist:innen, entdeckten ab den 1970er Jahren zunehmend auch Schriftsteller:innen und Journalist:innen ohne juristische Ausbildung dieses Feld für sich, wodurch sich der populäre Charakter der Gattung verstetigte.

Bei den zwischen 1955 und 1989 in Polen entstandenen Kriminalromanen lassen sich schließlich zwei verschiedene Entwicklungsstränge unterscheiden: So wird üblicherweise die eine Gruppe als ‚pseudo-westlicher‘ Kriminalroman klassifiziert, während die zweite Gruppe unter dem Begriff des ‚Milizromans‘ firmiert. Ersterer zeichnet sich dadurch aus, dass er Handlungsorte im ‚westlichen‘ Ausland wählt und damit zum einen der noch immer durchaus konfliktbeladenen Verbrechensdarstellung in der sozialistischen Gesellschaft entging und zum anderen dem an westeuropäische und amerikanische Kriminalliteratur gewöhnten Geschmack des Lesepublikums entgegenkam. Zu diesem Zweck, durchaus aber auch zur Distanzierung von der weiterhin als minderwertig angesehenen Gattung, wählten die Autoren meist fremdklingende Pseudonyme: So verbarg sich etwa hinter ‚Noël Randon‘ Tadeusz Kwiatkowski (1920–2007), hinter ‚Maurice A. Andrews‘ Andrzej Szczypiorski (1928–2000) und hinter ‚Umberto Pesco‘ Ireneusz Iredyński (1939–1985).

Der bereits erwähnte Maciej Słomczyński (1920–1998), der unter seinem bürgerlichen Namen auch als Übersetzer der Werke Shakespeares, James Joyces und weiterer Klassiker der englischen Literatur bekannt war, veröffentlichte unter dem Pseudonym ‚Joe Alex‘ zwischen 1959 und 1991 einen achtbändigen Zyklus um eine Schriftsteller- und Detektivfigur, die er ebenfalls Joe Alex nannte. Słomczyński alias Alex, der zeitweise Tweed-Anzug und Pfeife zum Markenzeichen seines öffentlichen Auftritts machte, rekurriert darin nicht zuletzt auf seine angelsächsische Herkunft, die er ausdrücklich als integralen Bestandteil der eigenen Identität betrachtete. In diesem Sinne liegt seinen in Großbritannien spielenden Romanen das Muster des englischen Kriminalromans in der Tradition Arthur Conan Doyles und Agatha Christies zugrunde; zugleich wurzeln sie jedoch betont in der polnischen Sprache und Mentalität. Damit bedienen sie zum einen in durchaus anspruchsvoller Weise eskapistische Bedürfnisse des zeitgenössischen polnischen Lesepublikums. Zum anderen können sie, insbesondere im Lichte zahlreicher inter- und metatextueller Kommentare, zumindest in gewissem Grad sowohl als Pastiche des klassischen Kriminalromans wie auch als Spiel mit der sog. Hochkultur interpretiert werden (Szczerbakiewicz 2019).

Auch die postmodernen Kriminalromane von Stanisław Lem (1921–2006), nämlich Śledztwo (1959, Die Untersuchung), Katar (1976, Der Schnupfen) sowie der unvollendet gebliebene und erst postum veröffentlichte Roman Sknocony kryminał (2009, Der verpfuschte Krimi), von denen die ersten beiden auch in deutscher Übersetzung erschienen sind (Lem 1975; 1977), spielen nicht in Polen, sondern im ‚westlichen‘ Ausland. Anders allerdings als etwa Słomczyński greift Lem, der sich in einem Essay von 1960 auch theoretisch mit dem Genre des Kriminalromans auseinandersetzt (Lem 2010 [1960]), das Muster der Detektivgeschichte auf, um deren philosophische Grundannahmen zu dekonstruieren (Smaruj 2020): Zwar bedient er sich (in parodistischer Absicht) konventioneller Krimi-Elemente, lässt jedoch das gattungsspezifische Prinzip der logischen Deduktion schlichtweg an der Komplexität der dargestellten Welt und den damit korrespondierenden Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit scheitern, womit er eine „als Krimi kostümierte negative Epistemologie“ entwirft (Gall 2021, 104). In diesem Sinne werden die Fälle, bei denen es sich ohnehin um keine justiziablen Tatbestände handelt, nicht etwa aufgrund polizeilicher Ermittlungen, außergewöhnlicher Intuition oder der obskuren wissenschaftlichen Theorien, die die Romanhandlungen charakterisieren, aufgeklärt. Stattdessen bleiben die Rätsel entweder ungelöst oder werden nur rein zufällig erklärt. An die Stelle von Täter:innen rücken Verkettungen höchst unwahrscheinlich anmutender Koinzidenzen, die sich – massenhaft auftretend – dennoch verdichten und die Figuren zur „Projektion von Sinnhaftigkeit“ veranlassen:

[D]as Sujet erinnert an einen verkappten Rorschachtest, in dessen Verlauf aus einer rätselhaften Gemengelage von Vorfällen ein sinnvolles und zum Handeln […] aufforderndes Geschehen herausgelesen wird, ohne dass freilich am Ende eine andere Auflösung erfolgt, als dass die Protagonisten sich ihrer Sinnprojektion bewusst werden. (Gall 2021, 103)

Neben den im Westen angesiedelten Kriminalromanen in ihrer klassischen Form sowie in postmodernen Varianten kam in Polen seit Mitte der 1950er Jahre auch eine spezifisch ‚sozialistische‘ Spielart des Genres auf. Diese in der Volksrepublik Polen selbst spielenden Krimis werden meist als ‚Milizromane‘ bezeichnet, da die Milicja Obywatelska – die Bürgermiliz, wie die Polizei im sozialistischen Polen genannt wurde – hier durchgehend einen zentralen Platz einnimmt. Wie jüngere Forschungen zeigen, gestalteten sie sich gerade in ihrer Frühphase sehr vielfältig und entsprachen meist nicht dem sich erst in der weiteren Entwicklung kristallisierenden Klischee des politisch-ideologisch durchtränkten Propagandakitschs. Vielmehr sind die in den späten 1950er Jahren entstandenen Kriminalromane ‚sozialistischer‘ Prägung häufig inspiriert von der Atmosphäre des ‚Polnischen Oktobers‘ – Dorota Skotarczak bezeichnet sie daher auch als ‚Tauwetter-Krimis‘ (kryminał odwilżowy) – und üben in vielerlei Hinsicht Kritik an den staatlichen (Ermittlungs-)Behörden. Darüber hinaus thematisieren sie gesellschaftliche Probleme wie Armut, Alkoholismus und Wohnraummangel wie auch daraus erwachsene Straftaten, etwa die allgegenwärtige Korruption und Veruntreuung, das sog. Rowdytum sowie Wirtschaftsdelikte in kleinem und großem Stil (Skotarczak 2019, 37–46).

Mit der allmählichen Rücknahme politischer und kultureller Freiheiten verbindet sich auch ein Rückgang der kritischen Töne im ‚Milizroman‘. Im Verlauf der 1960er Jahre bildete sich vielmehr eine Schablone heraus, die insbesondere eine überaus positive Darstellung der Miliz und ihrer Ermittlungsarbeit vorsah, um deren v.a. in der stalinistischen Phase erheblich beschädigtes Image aufzubessern. Der inzwischen massenhaft produzierte ‚sozialistische‘ Krimi stellt eine Mischung aus Propaganda- und Unterhaltungsgenre dar, dem aufgrund der detaillierten Beschreibung der ausdrücklich im Kollektiv erfolgenden und immer erfolgreich endenden Verbrechensbekämpfung eine enge Nähe zum sozrealistischen Arbeits- bzw. Produktionsroman attestiert wurde (Kubikowski 1965; Barańczak 1973; 1983; Jastrzębski 1982). Dementsprechend werden unter weitgehender Auslassung menschlicher Leidenschaften v.a. ideologisch relevante Kriminalitätsprobleme wie Schmuggel, Devisenhandel und Diebstahl von Gemeineigentum sowie damit verknüpfte Morde thematisiert, wobei sich der Figurenkreis der Kriminellen überwiegend aus der Vorkriegselite, politisch Abtrünnigen und Privatunternehmer:innen zusammensetzt (Skotarczak 2019: 12). Nicht selten werden auch bereits länger zurückliegende Verbrechen, die meist mit der deutschen Besatzung und dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängen, sowie durch ‚westliche Kapitalisten‘ inspirierte Kriminalfälle konstruiert.

Neben der inhaltlich dargestellten Kollektivität in der Gestalt der Miliz-Ermittlungen erfolgte vielfach auch auf der Produktionsebene eine gewisse Gemeinschaftsarbeit, da die Behörden regelhaft auch unmittelbar in den Schreibprozess der Autor:innen eingriffen. Zu diesem Zweck wurde innerhalb der Presseabteilung des Innenministeriums eine Unterabteilung von ‚Milizrezensent:innen‘ eingerichtet, die in der Entstehung begriffene Romane mit der Realität abglichen und den Autor:innen ‚beratend zur Seite standen‘, indem sie ihnen beispielsweise Zugang zu Ermittlungsakten verschafften, darüber hinaus aber auch Streichungen oder Hinzufügungen im Sinne des politischen Regimes vornahmen. Spätestens seit Ende der 1960er Jahre beteiligten sich die ‚Berater:innen‘ mitunter in erheblichem Umfang an der thematischen und poetischen Ausgestaltung der Romane (Skotarczak 2019: 15). Einige von ihnen traten schließlich auch persönlich als Krimi-Autor:innen auf. So verzeichnete etwa Helena Sekuła (1927–2020), die zuvor als Pressereferentin im Hauptpräsidium der Miliz tätig und für die Beratung von Journalist:innen und Schriftsteller:innen zuständig gewesen war, mit ihren Kriminalromanen große Erfolge.

Als eine Art Werbemaßnahme war von Grund auf auch die Reihe „Ewa wzywa 07“ („Eva ruft 07“) angelegt, die sich ausdrücklich der ‚realistischen‘ Darstellung des Arbeitsalltags und der Ermittlungsmethoden der Miliz verschrieb. Von 1968 bis 1989 erschienen in dieser Reihe, die auch wesentlich die ab 1976 produzierte Fernsehserie 07 zgłoś się (07 – bitte melden) inspirierte, fast 150 Milizromane. Einige davon stammen aus der Feder des Milizionärs Władysław Krupka (1926–2019), der unter den Pseudonymen Adrian Czobot und Władysław Krupiński schriftstellerte. Krupka, der nach einem Studium der Rechtswissenschaft in der Hauptkommandantur der Bürgermiliz tätig war, leitete dort zeitweise die für die Zusammenarbeit mit Journalist:innen und Schriftsteller:innen zuständige Abteilung und zeichnete auch konzeptionell mitverantwortlich für die literarische Inszenierung der Miliz. Neben seinen Kriminalromanen entwarf Krupka – nun mit dem ausdrücklichen Ziel der Popularisierung des Milizberufs unter Kindern und Jugendlichen – den bis heute legendären und namentlich vermutlich an Adam Nasielskis Figur des Inspektor Bernard Żbik aus den 1930er Jahren anknüpfenden ‚Kapitan Jan Żbik‘ als Hauptfigur einer äußerst beliebten Comic-Serie.

Wenngleich von eher geringer literarischer Qualität, erscheinen im Kontext von Recht und Literatur auch die Milizromane des ausgebildeten Juristen Jerzy Edigey (eigentlich Jerzy Korycki, 1913–1983) interessant, der ebenfalls dem Autor:innenkreis von „Ewa wzywa 07“ angehörte. Dem eigenen Anspruch nach sah Edigey, der aufgrund früherer antikommunistischer Aktivitäten als Rechtsanwalt mit einem Berufsverbot belegt wurde und seit den frühen 1960er Jahren als Romanautor tätig war, eine der Aufgaben schriftstellernder Juristen in der „Popularisierung von Recht“ (Korycki 1979, 49). Weniger bedeutend sind in den Milizromanen Edigeys zwar die zentralen Verbrechen, die meist extrem konstruiert und ideologisch überzeichnet wirken. Relevant sind hingegen die auf Nebenschauplätzen entfalteten Kriminalitätsprobleme innerhalb der polnischen Normalbevölkerung und ihre Verortung im Rechtssystem, die Edigey als nicht-fiktionale Elemente in die Romanhandlungen einarbeitet. Vielfach handelt es sich dabei um Themen, die im zeitgenössischen juristischen Diskurs zwar ausführlich verhandelt wurden, in breiten Bevölkerungsschichten hingegen tabuisiert waren.

Von der strengen Konzeption des Milizromans abweichende Muster finden sich u.a. bei Barbara Gordon (eigentl. Larysa Mitzner, 1918–1987) und Joanna Chmielewska. Zwar tritt auch in Gordons Romanen weiterhin die Miliz als zentrale Instanz der Strafverfolgung auf (Brylla 2019, 101). Der Einsatz einer bei den Ermittlungen assistierenden Rechtsanwaltsfigur lässt allerdings gewisse Friktionen, etwa hinsichtlich divergierender Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen, erwarten und erscheint durchaus einer darauf fokussierten Untersuchung wert. Neben Gordons Kriminalromanen gebührt zudem auch ihrem Gerichtsroman Proces poszlakowy (1963, Indizenprozess) Aufmerksamkeit. Der Gerichtsroman als spezifische Form des Kriminalromans gehört in der polnischen Literatur eher zu den Raritäten; für die sozialistische Zeit ist hier lediglich noch Edigeys Ostatnie życzenie Anny Teresy (2010 [1979], Anna Teresas letzter Wunsch) zu nennen.

Joanna Chmielewska (eigentl. Irena Barbara Kuhn, 1932–2013) wiederum gilt mit ihrer „Variante des humoristischen Unterhaltungskrimis“, in der überwiegend weibliche Charaktere vorkommen, als „Außenseiterin“ auf dem Gebiet des Milizromans (Jekutsch 2019, 161). Ihre Romane bewegen sich in einem breiten Spektrum zwischen klassischen Detektivgeschichten und ironischen Antikrimis (Gazdecka 2016). Ihre in den 1960er und 70er Jahren entstandenen Texte beziehen ihre Spannung häufig aus dem Einsatz von Amateurermittler:innen, die ihre Erkenntnisse nur teilweise mit der Miliz teilen. Ihrer diskreten Distanz zum staatlichen Machtapparat wie auch zum Schema des Milizromans ist vermutlich die Tatsache geschuldet, dass Chmielewska zu den sehr wenigen Autor:innen ihrer Zeit zählt, die über die Umbrüche von 1989/90 hinaus weiterhin mit Kriminalromanen Erfolg hatten.

Das Verhältnis des polnischen Lesepublikums zum ‚sozialistischen‘ Kriminalroman kann aus der Retrospektive als ambivalent angesehen werden: Einerseits wurden die Krimis in Massen produziert und gelesen: Von den 1950er Jahren bis 1989 wurden bis zu 2.000 Kriminalromane in Auflagen zwischen 30.000 bis 240.000 Exemplaren verkauft. Andererseits sahen nicht nur Literaturkritiker:innen insbesondere den ‚Milizroman‘ als minderwertiges Genre an; auch die Leser:innen wandten sich nach dem Ende der Volksrepublik offenbar überdrüssig davon ab. Gegenwärtig allerdings erscheinen zumindest einige dieser Texte durchaus einer Relektüre wert: Auf Initiative des seit 2001 bestehenden ‚Klubs der Milizroman-Liebhaber‘ (Klub Miłośników Powieści Milicyjnej‘, MOrd) und dessen Vorsitzenden Grzegorz Cielecki werden derzeit zahlreiche Kriminalromane aus der sozialistischen Ära nachgedruckt. Damit bedient der Klub ein vor allem an den heute kurios anmutenden Alltagsrealia der untergegangenen Volksrepublik interessiertes Lesepublikum. Auch zuvor schwer zugängliche, etwa in Zeitungsfolgen erschienene Texte stehen mittlerweile auch für die sich auf diesem Gebiet derzeit entfaltende Forschung wieder zur Verfügung.

5. Das Comeback des Kriminalromans in der Gegenwartsliteratur

Mit dem Zerfall des kommunistischen Regimes und dem politischen Systemwechsel von 1989/90 verband sich zunächst eine rezeptive Abkehr vom polnischen Kriminalroman, der sich in den Folgejahren „vom Geruch der politischen Zwangsideologisierung und des Agitprop-Mittels“ zu befreien hatte (Brylla 2019: 95). Während westeuropäische Kriminalromane massenhaft auf den polnischen Buchmarkt strömten, erschien die Vermarktung polnischer Kriminalliteratur mit wenigen Ausnahmen wie Joanna Chmielewska schlagartig indiskutabel, so dass sogar die zuvor äußerst erfolgreichen Romanserien gänzlich eingestellt wurden. Der polnische Kriminalroman erlag zu diesem Zeitpunkt gewissermaßen einem „natürlichen Tod“ (Kwiatek 2007, 7).

Erst etwa zehn Jahre später zeichnete sich auf dem Gebiet des Kriminalromans eine Wiederbelebung ab, die neue Autor:innen und Subgenres hervorbrachte. Mit seinem Debütroman Śmierć w Breslau (Tod in Breslau) legte der Altphilologe Marek Krajewski (geb. 1966) 1999 den ersten Band seines vorwiegend im deutschen Breslau der 1920er bis 40er Jahre spielenden Romanzyklus vor, der inzwischen auf zwölf Bände angewachsen und in zahlreiche Sprachen, darunter auch ins Deutsche (Krajewski 2002), übersetzt worden ist. Krajewskis Breslau-Krimis, die zur Abgrenzung vom heutigen Wrocław mit einer Fülle von historischen Alltagsrealia durchzogen sind, basieren weitgehend auf dem klassischen Muster der Detektivgeschichte: Einem ungewöhnlichen Verbrechen folgen polizeiliche Ermittlungsarbeit, ein Zweikampf zwischen Ermittler und Täter:in sowie schließlich die Lösung des Falls. Die Hauptfigur, der korrupte, hitzig-aggressive, meist betrunkene Kriminalrat Eberhard Mock allerdings fühlt sich weder dem Gesetz noch einer Moral verpflichtet und verkörpert – im typischen Krimi-Rahmen eigentlich auf der Seite der Gerechtigkeit stehend – den geistigen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verfall der Stadt und ihrer Bewohner:innen in der Zeit des Nationalsozialismus (Brylla 2016, 226).

Der vor historischer Kulisse spielende ‚Retrokrimi‘ avancierte um die Jahrtausendwende zur dominanten Untergattung des polnischen Kriminalromans. Im Anschluss an Marek Krajewski reihten sich zahlreiche Nachahmer:innen in diesen Trend ein, setzten mit der Wahl des jeweiligen regionalen und (rechts-)kulturellen Settings allerdings sehr unterschiedliche Akzente. Konrad T. Lewandowskis sechsbändiger Romanzyklus um den distinguierten Kommissar Jerzy Drwęcki – einer in jeder Hinsicht konträren Figur zu Krajewskis Eberhard Mock – etwa spielt im Warschau der 1920er Jahre und greift damit die überhöht-patriotische Stimmung nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens auf: Die Verbrecherfiguren kommen dem nationalen Binnennarrativ folgend aus dem Ausland, und zwar meist aus Russland, oder werden von dort aus beauftragt und gesteuert. Doch geht es Lewandowski vor dem Hintergrund des Sanacja-Regimes und den Kult um den Staatsmann Józef Piłsudski ohnehin weniger um die von Drwęcki nur eher zufällig aufgeklärten Mordfälle als vielmehr um das intellektuelle Flair der Warschauer Salons, in denen Wissenschaftler:innen, Literat:innen, Schauspieler:innen, Politiker:innen und eben Kommissar Jerzy Drwęcki aufeinandertreffen (Brylla 2016: 229).

Zu den historisch anmutenden Kriminalromanen gesellen sich seit etwa 2005 auch zunehmend gegenwartsnahe Stadtkrimis. Der Journalist, Schriftsteller und Sänger der Rockband ‚Świetliki‘ Marcin Świetlicki (geb. 1961) etwa machte mit seinen in Krakau spielenden, als „Pastiche“ und „Anti-Krimi“ bezeichneten Romanen auf sich aufmerksam. Dwanaście (2006, Zwölf), Trzynaście (2007, Dreizehn) und Jedenaście (2008, Elf) erzählen vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Ereignisse wie dem Tod Johannes Pauls II die Ermittlungen des „Meisters“ (mistrz) – eines namenlosen, alkoholabhängigen ‚Antihelden‘. Die Trilogie erschien in der programmatisch anspruchsvollen Reihe „Polska Kolekcja Kryminalna“ (Polnische Kriminalsammlung), deren erklärtes Ziel es war, dem polnischen Kriminalroman zu einer neuen Blüte zu verhelfen:

Die polnische Kriminalliteratur existiert im Bewusstsein des Lesers praktisch nicht. Zugleich lesen die Polen eine Menge importierter Thriller und Krimis. Außerdem findet kaum ein anderes Volk derart Gefallen an klassischen Kriminalromanen. Ist dieses etwas herablassende Verhältnis zur heimischen Kriminalliteratur das Resultat der fünfzigjährigen Vorherrschaft des hinterwäldlerischen Milizromans? Oder vielleicht der Unfähigkeit, sich einen Krimihelden vorzustellen, der nicht John heißt? […] Schwer zu sagen. Sicher ist hingegen, dass ohne eine große Anzahl polnischer Kriminalromane, ohne es [tatsächlich] zu versuchen und ohne Wege zu finden, die gegenwärtige […] Realität zu beschreiben, die Gattung in Polen keine Renaissance erleben wird. (Baran 2005, 5, Übersetzung: M.F.)

Schließlich erlebte der polnische Kriminalroman allerdings doch seine Renaissance, gar einen „Boom“ (Ostaszewski 2015), der seit den 2000er Jahren für einen erheblichen Zuwachs sorgt: Gelangten 2002 noch lediglich vier heimische Neuerscheinungen auf den Buchmarkt, so liegt für die Jahre 2006 und 2007 zusammengenommen die Zahl der neuen Titel bereits bei etwa 150 (Schnabel 2008: 30). Bei den meisten Autor:innen handelt es sich um Debütant:innen jüngerer Generationen, doch auch etwa die in der sozialistischen Zeit als Autorin von Milizromanen populär gewordene frühere Miliz-Mitarbeiterin Helena Sekuła veröffentlichte in den 2000er Jahren fünf neue Kriminalromane. Neben einer mittlerweile hinreichenden Distanz zum ‚sozialistischen‘ Kriminalroman und einer neuen Akzeptanz beim Lesepublikum trugen diverse Popularisierungsmaßnahmen von Verlagen und Kulturinstitutionen zu dieser Entwicklung bei, und zwar nicht zuletzt das seit 2004 jährlich in Wrocław abgehaltene Krimifestival, das seit 2009 offiziell von der Stadt ausgerichtet wird und seither unter dem Namen ‚Międzynarodowy Festiwal Kryminału‘ (Internationales Krimifestival) firmiert. Im Rahmen des Festivals werden u.a. Schreibwerkstätten für (angehende) Krimiautor:innen organisiert und der mittlerweile prestigeträchtige Preis „Nagroda Wielkiego Kalibru“ (Großkaliberpreis) für den besten polnischen Kriminalroman des Jahres verliehen.

Für eine Überraschung sorgte seinerzeit die inzwischen mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Olga Tokarczuk mit ihrem Kriminalroman Prowadź swój pług przez kości umarłych (2009, Lenke deinen Wagen über die Gebeine der Toten), der 2011 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Gesang der Fledermäuse“ erschienen ist. Vor der Kulisse eines abgelegenen Dorfes in der polnisch-tschechischen Grenzregion kommt es darin zu einer Reihe rätselhafter Todesfälle, bei deren Verursachung offenbar Tiere – vom Ersticken an einem Rehknochen bis zum Kirchenbrand durch nistende Vögel – eine besondere Rolle spielen. Die von Tokarczuk als unzuverlässige Erzählerin konstruierte Hauptfigur der Janina Duszejko, eine entrückt wirkende Verfechterin von Tierrechten, ‚beteiligt‘ sich mittels astrologischer und anderer ungewöhnlicher Methoden an den polizeilichen Ermittlungen: Hinter den Morden ‚wähnt‘ sie Racheakte der Tiere an unbelehrbaren und von den Behörden für gesetzeswidrige Handlungen nicht zur Rechenschaft gezogenen Jägern und Wilderern, zu denen die Toten allesamt gehörten. Der Roman entzieht sich einer eindeutigen Gattungszuordnung, wurde vielfach als ‚Ökokrimi‘ und ‚moralischer Thriller‘ bezeichnet, kann darüber hinaus aber auch als ein mit Humor und Ironie gespickter Pastiche gelesen werden (Wzorek 2013). Unter dem Titel Pokot (2017, Die Spur) wurde Tokarczuks Roman prominent von Agnieszka Holland verfilmt.

Das bereits angesprochene Phänomen der ausgeprägten regionalen Bindung erzählter Kriminalität findet sich in der polnischen Literatur übrigens nicht nur beim Kriminalroman, sondern darüber hinaus auch bei den weiterhin populären Pitavalsammlungen. Zwar macht der Pitaval in Polen auch gegenwärtig nur einen quantitativ geringen Anteil an der Gesamtproduktion von Kriminalliteratur aus. Bemerkenswerterweise können in diesem Segment, in dem sich – anders als beim Kriminalroman – nach 1989/90 kein erheblicher Bruch vollzogen hat, bis in die 1950er Jahre zurückreichende Kontinuitäten beobachtet werden: Während sich thematisch sortierte Pitavalsammlungen als Ausnahmen erweisen, stellt hier die Regionalität nach wie vor das am häufigsten verwendete Ordnungskriterium dar, und fast jede größere (und manch kleinere) polnische Stadt und Region kann mittlerweile mit einem ‚eigenen‘ Pitaval aufwarten: Waren spektakuläre Gerichtsprozesse aus Warschau, Krakau und Łódź bereits früh und teilweise schon mehrfach Gegenstand literarischer Fallsammlungen, finden jüngst auch Kleinstädte wie etwa das schlesische Zawiercie (Maciążek 2020) derlei Beachtung. Die Bandbreite des polnischen Gegenwartspitavals reicht derzeit von Sammlungen kurzer Verbrechenserzählungen mit rein unterhaltendem Anspruch (z.B. Nowak 2013) über kenntnisreich aufbereitete Kriminalchroniken bis hin zu (rechts-)historischen Publikationen in wissenschaftlichem Duktus (z.B. Badziak/Badziak 2017).

Als noch junge Untergattung des polnischen Gegenwartskrimis versucht der Verlag „Od Deski Do Deski“ seit 2015 unter dem Serientitel „Na F/Aktach“ (F/Aktenbasiert) Tatsachenromane mit Kriminalsujets zu etablieren. Diese basieren – ähnlich wie Pitavalgeschichten – auf authentischen Kriminalfällen, werden allerdings im Unterschied zu letzteren auf Romanlänge ausgearbeitet und deutlich stärker fiktionalisiert. Die bislang vorliegenden Bände stammen meist von etablierten Autor:innen, darunter Sylwia Chutnik (geb. 1979), Anna Fryczkowska (geb. 1968) und Wojciech Kuczok (geb. 1972). Die explizite Bezugnahme des Verlags auf Truman Capotes In Cold Blood kann zwar in erster Linie als Marketingstrategie angesehen werden, da die polnischen ‚Dokumentarkrimis‘ jedenfalls aus literaturtheoretischer Sicht wenig mit Capotes true crime novel gemein haben (Adamczewska 2016: 92). Als Ausgangspunkt für ihre ausdrücklich als ‚fiktional‘ attribuierten Romane dienen den Autor:innen allerdings u.a. Gerichtsakten, Presseberichte und – so zumindest im Fall Janusz Leon Wiśniewskis I odpuść nam nasze... (2015, Und vergib uns unsere…) – Gespräche mit Täter:innen, womit der ‚Dokumentarkrimi‘ eine interessante Position zwischen Pitaval und Kriminalroman einnimmt und von der Recht-und-Literatur-Forschung nicht außer Acht gelassen werden sollte.

Auch der Trend des ‚Retrokrimis‘ hält derzeit weiterhin an. Der mit seiner Breslau-Reihe erfolgreiche Marek Krajewski erkundet nun u.a. auch Warschau und Lemberg als Kulisse für seine Kriminalgeschichten. Andere Autor:innen auf diesem Gebiet konnten inzwischen den Anschein des Epigonentums abweisen und sich einen eigenen Namen mit historischen Stadtkrimis machen. Zu nennen ist hier beispielsweise Marcin Wroński (geb. 1972), dessen Lublin-Romane um Kommissar Zyga Maciejewski in der Zwischen- und Nachkriegszeit angesiedelt sind. Ryszard Ćwirlej (geb. 1964) wiederum wählt die Posener Miliz bzw. Polizei von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart als Setting seiner Kriminalromane: Vor dem Hintergrund realer Großereignisse, etwa den Verhandlungen am sog. Runden Tisch und der Systemtransformation nach 1989/90 schreibt Ćwirlej den ‚historischen‘ zum ‚zeithistorischen‘ Kriminalroman fort.

Neben dem ‚Retrokrimi‘ erscheinen aktuell zahlreiche neue Autor:innen, Stilrichtungen und Subgattungen auf dem polnischen Krimimarkt, die hier nur sehr punktuell angesprochen werden können. Die ehemalige Journalistin Katarzyna Bonda (geb. 1977) etwa führte in ihrem Debüt Sprawa Niny Frank (2007, Der Fall Nina Frank) mit dem Polizeipsychologen Hubert Meyer eine Profiler-Figur – als Novum in der polnischen Kriminalliteratur – ein (Orządała 2019, 127). Die Reihe um Hubert Meyer ist inzwischen auf sieben Bände angewachsen, und auch eine zweite Krimi-Reihe basiert mit der Profilerin Sasza Załuska wesentlich auf psychologischen Fallanalysen. Die Inspiration dazu bezog Bonda nach eigenen Aussagen vor allem aus der Begegnung mit dem Kriminalpsychologen Bogdan Lach im Rahmen von Recherchen für eine Kriminalreportage. Spätestens mit Bonda rückt das Prinzip des whodunit auch im polnischen Kriminalroman stark in den Hintergrund; vielmehr werden „tiefe psychologische Studien“ literarisch inszeniert (Orządała 2019, 124 f.). Neben ihren Romanen verfasst Bonda, teilweise in Ko-Autorschaft mit Lach, auch dokumentarische Kriminalliteratur aus demselben Formenkreis, darunter Polskie morderczynie (2008, Polnische Mörderinnen) und Motyw ukryty. Zbrodnie, sprawcy i ofiary. Z archiwum profilera (2020, zus. mit Bogdan Lach, Das verborgene Motiv. Verbrechen, Täter und Opfer. Aus dem Archiv eines Profilers).

Zu den gegenwärtig produktivsten und meistgelesenen polnischen Schriftsteller:innen zählt auch der promovierte Jurist Remigiusz Mróz (geb. 1987). Dieser gab seinen Beruf als Rechtsanwalt zugunsten der Schriftstellerei auf und veröffentlichte seit 2013 mehr als 50 Bücher, darunter mehrheitlich seriell erscheinende Kriminalromane in diversen historischen und zeitgenössischen Settings sowie ‚juristische und psychologische Thriller‘ (‚thrillery prawnicze i psychologiczne‘). Die umfangreichste Reihe, in deren Zentrum die Figur der Rechtsanwältin Joanna Chyłka steht, umfasst bislang 14 Bände und ist durchzogen von Reflexionen über das Verhältnis von Gesetz, Rechtsprechung und Gerechtigkeit im polnischen Justizbetrieb. Mróz’ Roman Nieodnaleziona (2018, Die Vermisste) um den Protagonisten Damian Werner und seine verschwundene Verlobte Ewa wie auch die Fortsetzung Nieodgadniona (2019, Die Rätselhafte) liegen unter den Titeln Die kalten Sekunden (2019a) und Bis zum Ende (2020) auch in deutscher Übersetzung vor.

Literatur

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Zitiervorschlag

Melanie Foik (2022): Der polnische Kriminalroman, in: Thomas Gutmann, Eberhard Ortland, Klaus Stierstorfer (Hgg.), Enzyklopädie Recht und Literatur,
doi: 10.17879/71089504487
URL: https://lawandliterature.eu/index.php/de/inhalt?view=article&id=25&catid=11

 

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