Wilhelm Schapp
Stand 2. April 2022
*15. Oktober 1885 in Timmel/Ostfriesland; † 22. März 1965 in Sanderbusch
war ein deutscher Philosoph, Rechtsanwalt und Notar, der eine „Philosophie der Geschichten“ entwickelt hat, die für die Erforschung der Relevanz von Narrativen wie der Fallgeschichte, der Legitimationserzählung, der Darstellung eines Beschuldigten in Anzeigen, Anklage- oder Verteidigungsschriften sowie in zahlreichen weiteren rechtlichen Verwendungskontexten fruchtbare Ansatzpunkte bietet. Im Mittelpunkt von Schapps Geschichtenphilosophie steht das In-Geschichten-Verstricktsein des Menschen und dessen Bedeutung für das Verstehen und Erfassen von Mensch und Welt, in rechtsphilosophischer Perspektive v.a. die Beziehung zwischen Geschichten und Fall. Die Geschichtenphilosophie wird insbesondere im Kontext der narrativen Philosophie sowie im interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs rezipiert, wobei Psychologie, Pädagogik, Kulturwissenschaften und Rechtsphänomenologie hervorzuheben sind.
1. Biografie
Wilhelm Albert Johann Schapp entstammte einer über viele Generationen rückverfolgbaren „ostfriesischen Schiffer-, Reeder- und Händlerfamilie“ (Lübbe 1993, 302). Er selbst schlug einen anderen Weg ein, in dem sich philosophisches Interesse und lebenspraktischer Beruf trafen (Joisten 2016, 362). Anfang des 20. Jahrhunderts studierte Schapp Rechtswissenschaft und Philosophie (W. Schapp 1964, 54), zunächst in Freiburg, dann in Berlin. Während seiner Referendariatszeit in Göttingen und seiner Hospitantenzeit in München vertiefte er seine philosophischen Studien. Zu dieser Zeit stellte Wilhelm Schapp den Kontakt mit Edmund Husserl her und wurde Teil des frühen Phänomenologenkreises (Spiegelberg 1960; Plessner 1985; Gottlöber 2020). 1909 wurde er in Göttingen bei Husserl promoviert mit einer philosophischen Dissertation, die 1910 unter dem Titel Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung veröffentlicht wurde (W. Schapp 2013).
Wilhelm Schapp, für den eine akademische Laufbahn in Betracht kam, die er jedoch nicht verfolgte (Rolf 2013, VI), arbeitete seit 1911 als Rechtsanwalt in Aurich. Am ersten Weltkrieg nahm er teil und verbrachte 1917 ein halbes Jahr im Lazarett. Nach dem Krieg führte Schapp seine Tätigkeiten als Rechtsanwalt und auch als Notar (bis 1939) in Aurich fort und setzte sich insbesondere für die Interessen der ostfriesischen Landwirte ein (Joisten 2016, 367-370). Die bisher nur in Teilen veröffentlichten Nachlassschriften dokumentieren ab dem Jahr 1920 ein Wiedererstarken der philosophischen Auseinandersetzung mit klassischen Positionen und Werken der abendländischen Geistesgeschichte. Ab Mitte der 20er Jahre vertiefte Schapp, auch evoziert durch sein juristisches Arbeitsfeld, seine wert- und rechtsphänomenologischen Untersuchungen, die eine erste Abwendung vom frühen Husserlschen Werk anzeigen und als Weichenstellung seines eigenständig kritischen Philosophierens gedeutet werden können (Joisten/Schapp/Thiemer 2017, 9). In Kenntnis des in der frühen Phänomenologie einflussreichen rechtsphänomenologischen Ansatzes von Adolf Reinach (De Vecchi 2016) und über diesen hinausgehend entwickelte Schapp seine Grundlagenlehre von Eigentum und Vertrag in den Jahren 1930 und 1932 in seinem zweibändigen Werk: Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 1. Band: Der Vertrag als Vorgegebenheit und 2. Band: Wert, Werk und Eigentum (W. Schapp 1930 und 1932).
In den 30er Jahren arbeitete Wilhelm Schapp an einer weiteren Schrift, die im Jahr 1937 und 1938 verfasst, jedoch erst 1965 unter dem Titel Zur Metaphysik des Muttertums veröffentlicht wurde. Die Schrift nimmt im Blick auf das Gesamtwerk Schapps eine „Sonderstellung“ ein, da es sich hier um „eine persönliche Stellungnahme“ mit bekenntnishaftem Charakter zu Glaubensthemen handelt (Joisten 2020, S. 123).
Schapp strebte keine politischen Ämter an. Auf die Frage nach den Gründen soll er nach familiärer Überlieferung mit einem plattdeutschen Sprichwort geantwortet haben: „Een vergeten Man is da wall an.“ – Ein vergessener Mann ist unter diesen Umständen gut dran (Joisten 2016, 369 f.). Er lebte als politisch unbelasteter Rechtsanwalt in Aurich, wurde allerdings 1940 zum Kriegsgerichtsrat ernannt, im Herbst 1944 noch zum Volkssturm eingezogen, aber schon Anfang 1945 krankheitsbedingt entlassen (ebd., 370).
Nach Kriegsende nahm Schapp seine notarielle und rechtsanwaltliche Tätigkeit 1945 wieder auf, die er bis zu seinem Todesjahr 1965 fortsetzte, seit Ende der 40er Jahre gemeinsam mit seiner Frau Luise (1912–2016). Ab Ende der 40er Jahre arbeitete Schapp verstärkt an seinem eigenständigen philosophischen Ansatz, dessen Fundament „die Bedeutung von Geschichten“ ist (J. Schapp 2004a, 17). Dabei sind Geschichten für Wilhelm Schapp nicht einfach nur im literarischen Stil niedergeschriebene Erzählungen oder übers Hörensagen weitergebene Schilderungen. Es geht ihm grundsätzlich um das unhintergehbar In-Geschichten-Verstricktsein der Menschen. Die Entwicklung der Geschichtenphilosophie und ihre Konzeption ist undenkbar ohne Schapps anwaltliche Praxis, die tief im geschichtenphilosophischen Ansatz wirkt und nicht nur in Beispielen aus dem juristischen Kontext, die Schapp aufnimmt, um die Bedeutung von Geschichten u.a. anhand von Legitimationserzählungen zu untermauern.
„Dass Wilhelm Schapp nicht nur Philosoph, sondern auch Jurist war, ist für die Entstehung seiner Philosophie der Geschichten sicher von einer Bedeutung gewesen, die nicht unterschätzt werden darf. Vielleicht kann man sogar sagen, dass seine langjährige Erfahrung als Rechtsanwalt und Notar ebenso Voraussetzung der Entstehung dieser Philosophie gewesen ist wie seine Herkunft aus der Phänomenologie Edmund Husserls.“ (J. Schapp 2010, 65)
2. Geschichtenphilosophie
Der Ansatz der Geschichtenphilosophie wurde von Wilhelm Schapp in drei Werken veröffentlicht. Es handelt sich um die Schriften: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (EV 1953; W. Schapp 2012), Philosophie der Geschichten (EV 1959; W. Schapp 2015) und Metaphysik der Naturwissenschaft (EV 1965; W. Schapp 2009). In diesen Schriften legt Schapp die Grundlinien seines originären philosophischen Ansatzes vor, der – aus heutiger Perspektive in den Blick genommen und obwohl Schapp diese Terminologie nicht verwendet – seiner Zeit voraus die grundlegende Bedeutung von Narrativen und Narrationen (Greisch 2010, 190 ff.; Liebsch 2010) ins Zentrum einer anthropo-ontologischen Reflexion stellt.
In den genannten Schriften geht der geschichtenphilosophische Ansatz Schapps in Gänze nicht auf. Dieser zeigt sich erst im Blick auf den mehr als 20000 Seiten umfassenden maschinenschriftlichen Nachlass Wilhelm Schapps, der zu Teilen im Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird und zu Teilen in privatem Besitz ist. Die Nachlassmanuskripte, die den umfassenden Horizont der Geschichtenphilosophie veranschaulichen, werden seit 2016 in der Reihe: Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass herausgegeben (W. Schapp 2016, 2017, 2018, 2019).
Die Schriften der sog. Geschichtentrilogie sowie die Nachlassschriften dokumentieren, dass und wie Schapp der Bedeutung des Sinngebildes Geschichten in mehr als 30-jähriger Auseinandersetzung einerseits mit der philosophischen und der (rechts-)phänomenologischen Tradition sowie in der Durchdringung und Deutung der abendländischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte nachspürt. Die zweite Grundlage zur Entwicklung der Geschichtenphilosophie lässt sich in der anwaltlichen Berufspraxis Wilhelm Schapps sehen, die er bis zu seinem Todesjahr 1965 verfolgte.
Von beträchtlicher Bedeutung für die Entstehung der Geschichtenphilosophie Anfang der fünfziger Jahre war außer der Schülerschaft Wilhelm Schapps bei Edmund Husserl und den phänomenologischen Werken der dreißiger Jahre […] vor allem die bis 1911 zurückgehende reiche Erfahrung Wilhelm Schapps in der juristischen Praxis als Rechtsanwalt und Notar. Mein Vater selbst wies gelegentlich darauf hin, daß er ohne seinen Beruf nicht auf die Geschichten gekommen wäre. (J. Schapp 2004a, 16)
Wilhelm Schapp beginnt seine Schrift In Geschichten verstrickt mit folgenden Zeilen:
Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann. (W. Schapp 2012, 1)
Geschichten und Menschsein gehören für Wilhelm Schapp zusammen. Menschsein heißt In-Geschichten-Verstricktsein (Haas 2002; Pohlmeyer 2004; Bermes 2004; Lübbe 1972; Thiemer 2020b; Joisten 2013; Stederoth 2020), womit das anthropo-ontologische Kernthema der Geschichtenphilosophie benannt ist (Thiemer 2020a, 157). Einerseits bringt dieser auf den ersten Blick vielleicht ungewohnte Gedanke zum Ausdruck, dass der Mensch von Geburt bis zu seinem Tode in eine Vielfalt von Geschichten verwoben ist und diese auch selbst (neu) entwirft, hervorbringt und schöpft. Andererseits liegt in diesen Zeilen, dass ein Zugang zum Menschen über Geschichten, über eine Vielzahl an Geschichten, über eine Vielzahl von Narrationen erfolgt, ja im Sinne des geschichtenphilosophischen Ansatzes, nur erfolgen kann. Von hier her kann Schapp festhalten, dass das „Begegnen mit Geschichten gleichbedeutend mit Menschsein“ ist (W. Schapp 2019, 76). Schapp selbst formuliert den Gedanken in folgenden Worten aus:
Wenn man etwa seine Bekannten daraufhin mustert, wird man sehen, wie man sie eigentlich alle nur über Geschichten kennt, und wie vielleicht viele kleine Geschichten sich zu einem Lebensbild zusammenfügen. Das Wesentliche, was wir von den Menschen kennen, scheinen ihre Geschichten und die Geschichten um sie zu sein. Durch seine Geschichte kommen wir mit einem Selbst in Berührung. Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches. (W. Schapp 2012, 105)
Das Verstricktsein-in-Geschichten ist nicht im pejorativen Sinne zu verstehen, sondern dahingehend, dass mit Geschichten ein Relations- bzw. Bezugsgewebe angedacht ist, ein Lebensnetzzusammenhang, in dem der Mensch als Mensch in der Lebenswelt verortet ist.
Um dies umfassend zum Vorschein zu bringen, untersucht Schapp die Außenwelt, die Mitwelt, die Umwelt, das Wesen des Menschen und die Weisen ‚Mensch-zu-sein‘ wie auch ‚Mit-Mensch-zu-sein‘ – und zeigt in immer neuen Deskriptionen auf, dass das, wie es ist, stets nur in Geschichten ist. Prägnant heißt es im Nachlass im Rückgriff auf eine der meist rezipierten Formulierungen aus In Geschichten verstrickt: „Wenn wir früher gesagt haben, die Geschichte steht für den Mann, so möchten wir jetzt den Satz aufstellen: die Geschichte steht […] für eine Welt und eine Zeit“ (W. Schapp 2019, 32).
Geschichten, das sind für Wilhelm Schapp vor- und zurückweisende Sinngewebe, Sinngeflechte, Sinnbezugsrelationen, die nicht in einer Analytik des Begriffs Geschichte und Geschichten aufgehen oder feststellbar sind, auch wenn die historische Geschichte, literarische, epische Geschichten, Erzählungen, „Wachgeschichte, Traumgeschichte, Mythos“ (W. Schapp 2015, 285) sowie die konkreten erlebten Geschichten des Alltags u.v.m. für Schapp von Relevanz sind. Prägnant formuliert Schapp die Dimension der Geschichtenphilosophie: „Für uns sind die Geschichten Urphänomene, Urgebilde, urhafter als die Gebilde der Wissenschaft“ (W. Schapp 2015, 26).
Fundamente des geschichtenphilosophischen Ansatzes sind in den Worten Schapps, dass der „Ausdruck Geschichte und das, was er umfaßt, nicht erfunden [ist], sondern wir finden das Gebilde Geschichte vor“ (W. Schapp 2015, 85) und „daß gerade die Geschichten das Grundlegende sind und erst aus den Geschichten Menschen, Tiere und Häuser“ (W. Schapp 2012, 85) auftauchen, sich zeigen. Letzteres zu entfalten ist Hauptgegenstand von In Geschichten verstrickt. In den späteren Bänden, Philosophie der Geschichten wie auch in Metaphysik der Naturwissenschaft verfolgt Schapp das Phänomen der Geschichtenvergessenheit, weist in der Durchdringung vielfältiger Deutungsmuster der abendländischen Philosophie-, Geistes- und Wissenschaftsgeschichte auf, dass und wie die Bedeutung der Geschichten für den (anthropo-ontologischen) Zugang zu Mensch und Welt unterminiert wurden, wobei er den Ausdruck „Sonderwelt des Abendlandes“ (W. Schapp 2015, 49) als Gegenbegriff zur „Geschichtenwelt als positive Welt“ (J. Schapp 2020, 22; J. Schapp 2004b) prägt und in immer neuen Weisen darlegt, „daß […] das Hauptgewicht der Welt nicht in Naturwissenschaft und Mathematik liegt, sondern in den Geschichten“ (W. Schapp 2009, 5). Die Geschichtenphilosophie stellt kein philosophisches System auf. Vielmehr verfolgt sie in immer tiefer und weiter werdenden Kreisen das Geschichtenbezugsgebewebe, als das die Lebenswelt dem Menschen, der Mensch sich selbst und anderen sowie der Mitmensch in konstanter Vermitteltheit und Vermittlung durch und mittels Geschichten gegeben ist.
Taucht eine Geschichte auf, so tauchen auch immer der Mensch, die Menschen, Dinge, Lebewesen auf, die in die Geschichte(n) verstrickt sind oder waren. Die Geschichtenphilosophie handelt von Ich-Verstrickungen, von Wir-Verstrickungen, von Fremd-Verstrickungen, von der „Allgeschichte“ und dem Verlust derer; sie reflektiert die Dinge der Lebenswelt in ihrer geschaffenen Wozudinglichkeit; sie bedenkt die Konsequenzen für das Verständnis von Mensch und Welt im Zuge der Geschichtenvergessenheit. Das Anliegen der Geschichtenphilosophie beschreibt Schapp in folgenden Worten:
„Wenn man uns aber fragt, was wir mit unseren Überlegungen bezwecken, […] so mag man das, was wir vortragen, für den Entwurf einer Allgeschichte nehmen, in der alle Völker und Kulturen Platz haben. Es würde uns genügen, wenn alle fühlen würden, daß wir alle in einem Boot fahren, etwas mehr als Schiffbrüchige im Nichts und als solche zusammenhalten müssen.“ (W. Schapp 2015, 346)
Will man die philosophische Bedeutung des Denkens von Wilhelm Schapp umreißen, liegt diese in der Entfaltung einer Geschichtenphilosophie, die die Intention einer Neudeutung des Menschen verfolgt und dabei Grundthemata eines narrativ philosophischen Ansatzes zum Ausdruck bringt. Während Schapps Lehrer Husserl den Menschen als ein phänomenologisches Bewusstsein analysierte, das – durch Intentionalität gekennzeichnet – sich in seinen Wahrnehmungsakten auf die von ihm verschiedene objektive Realität bezieht, macht Schapp deutlich, dass eine solche Konzeption zu kurz greift. Denn der Horizont, innerhalb dessen dieses phänomenologische Bewusstsein seinen ‚Ort‘ hat, sind die Geschichten, in die der Mensch mit seiner Geburt immer schon verstrickt ist. So gibt es keine isolierten, intentionalen Erlebnisse, sondern die Einheit eines Subjektes und seiner Welt jeweils nur in Geschichten, einem lebendigen, dynamischen Sinnzusammenhang. Will man die personale Identität eines Menschen erfassen, kann dies Schapp zufolge nur durch den Zugang über die geschichtliche Einheit einer Vielfalt seiner Geschichten gelingen. Philosophische Aufgabe im Sinne Schapps ist daher die Darlegung des ursprünglichen Charakters des Grundphänomens der Geschichtenverstrickung, zu der neben der historischen Dimension mit ihrem Aufweis der Geschichtenvergessenheit (insbesondere im Zuge eines spezifischen neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses) auch die strukturelle Dimension mit ihrem Aufweis der Gegebenheitsweisen, der Vermitteltheit von Geschichten, der Vermittlung durch Geschichten und der Inhalte der Geschichten gehören.
3. Geschichten, Akte, Fall und Erzählung
In seiner geschichtenphilosophischen Grundlegungsschrift In Geschichten verstrickt skizziert Schapp ein Szenario, in dem ein „Richter“ eine „Akte“ erhält, die zum Inhalt eine „Anzeige“ hat. Mit dem Zusammenhang zwischen Akte, Fall und Erzählung sind Grundelemente benannt, von denen her Schapps Geschichtenphilosophie initiiert ist. Die Akte hat zum Inhalt eine „Anzeige gegen einen angesehenen Mann […] mit vielen delikaten Einzelheiten“ (Schapp 2012, 103). Dem Richter wird mittels der Akte „eine Geschichte oder Geschichten“ erzählt, die sich in ihm in der Beschäftigung mit dem Fall fortsetzt bzw. fortsetzen, sozusagen in einer Mit-Verstrickung, wie es Schapp anderen Orts beschreibt. Durch die Geschichte taucht der angesehene Mann im geistigen Auge des Richters in einer durch Geschichten gebildeten Persönlichkeit auf. Später trifft der Richter leiblich auf den Angeklagten. Sie führen eine Unterhaltung und der Richter lernt den Angeklagten in dieser noch einmal anders als aus der Akte kennen (Joisten 2010a, 283 ff.). Schapp sucht mit diesem Beispiel vor Augen zu führen, dass die Geschichten der Akte und das lebendige Erleben nicht unbedingt zum gleichen Eindruck über die Person führen. Jedoch, und dies ist die tiefere Bedeutung, die Schapp mittels seiner Schilderung verfolgt, ist ein Zugang zu dieser Person immer nur gegeben und nur möglich über und durch eine Vielzahl von Geschichten, in die die Person verstrickt ist – und in die der Richter im Beispiel durch die Aktengeschichte wie auch die Begegnung mitverstrickt wird.
Im Zuge des Durchspielens verschiedener Szenarien bringt Schapp sein geschichtenphilosophisches Verständnis der Rechtspraxis auf den Punkt:
Was wir hier mit Fall bezeichnen, sind in Wirklichkeit Geschichten. Es mögen Geschichten sein mit einem juristischen Mittelpunkt. Es gibt aber kaum einen Fall, der nicht auch menschliche Qualitäten zutage bringt, Einblicke in die menschliche Seele eröffnet. Wir möchten hier zunächst sagen, daß die Fälle für die Personen stehen, daß der Anwalt zu den Personen hier vordringt über Fälle. (W. Schapp 2012, 104)
Mit der Ausdrucksweise der Geschichtenphilosophie meint dies Folgendes, was oben bereits aufgenommen wurde:
Das Wesentliche, was wir von den Menschen kennen, scheinen ihre Geschichten und die Geschichten um sie zu sein. Durch seine Geschichte kommen wir mit einem Selbst in Berührung. Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine[r] Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches. (W. Schapp 2012, 105)
Auch in den Nachlassschriften finden sich vielerorts die hier angedeuteten Bezüge der Rechtspraxis zur Geschichtenphilosophie. Exemplarisch lässt sich folgende Stelle anführen, die Wilhelm Schapp im Jahr 1959 festgehalten hat:
Unser Recht ist in den Gesetzbüchern niedergelegt. Dazu kommt noch die juristische Literatur. Wenn wir nun fragen, was dies eigentlich ist, so kommen wir sehr bald auf die Ebene der Geschichten, zu den aktuellen Geschichten, wo das Recht konkret und wirklich ist, und wir müssen wohl versuchen, von diesen Geschichten aus einen Zugang zu den Gesetzbüchern und der Literatur zu finden, wenn unsere Studenten auch, ich hätte fast gesagt[:] Gott sei’s geklagt, den umgekehrten Weg gehen. (W. Schapp 2019, 42)
In ausgewählten Aspekten ist der geschichtenphilosophische Ansatz Wilhelm Schapps in den Schriften seines Sohnes Jan Schapp (geb. 1940) aufgenommen und eigenständig entfaltet worden, und zwar sowohl in der juristischen Methodenlehre als auch in seinen rechtsphilosophischen Werken und Beiträgen. Insbesondere ab den 2000er Jahren hat Jan Schapp eine Reihe an Artikeln publiziert, die sich explizit mit dem Themenkomplex: Geschichten, Fall und Erzählung im Aufgriff der Geschichtenphilosophie wie auch darüber hinausgehend auseinandersetzt (u.a. J. Schapp 2012, 2013, 2022).
Nachweise
1. Werke
Wilhelm Schapp (1930): Die neue Wissenschaft vom Recht: Eine phänomenologische Untersuchung, 1. Band: Der Vertrag als Vorgegebenheit, Berlin-Grunewald: Walther Rothschild.
Wilhelm Schapp (1932): Die neue Wissenschaft vom Recht: Eine phänomenologische Untersuchung, 2. Band: Wert, Werk und Eigentum, Berlin-Grunewald: Walther Rothschild.
Wilhelm Schapp (1964): Kleine Autobiographie des Verfassers, in: Kurt Lothar Tank (Hg.): Eckart-Jahrbuch 1964/65, Witten/Berlin: Eckart, 54–56.
Wilhelm Schapp (1965): Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag: Martinus Nijhoff.
Wilhelm Schapp (1976): Erinnerungen an Edmund Husserl: Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden: Heymann.
Wilhelm Schapp (2009): Metaphysik der Naturwissenschaft, 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann.
Wilhelm Schapp (2012): In Geschichten verstrickt: Zum Sein von Mensch und Ding, 5. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann.
Wilhelm Schapp (2013): Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, 5. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann.
Wilhelm Schapp (2015): Philosophie der Geschichten, hg. von Karen Joisten und Jan Schapp, 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann.
Wilhelm Schapp (2016): Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten, Teilband I, hg. von Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg/München: Alber. (= Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass 1)
Wilhelm Schapp (2017): Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten, Teilband II, hg. von Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg/München: Alber. (= Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass 2)
Wilhelm Schapp (2018): Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten, Teilband III, mit einem Sach- und Personenregister der Bände I-III, hg. von Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg/München: Alber. (= Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass 3)
Wilhelm Schapp (2019): Geschichten und Geschichte, hg. von Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg/München: Alber. (= Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass 4)
2. Literatur
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Karen Joisten (2015): Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten. Ein Zugang, in: Wilhelm Schapp: Philosophie der Geschichten, hg. von Karen Joisten und Jan Schapp, 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann, 5–11.
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Karen Joisten / Jan Schapp / Nicole Thiemer (2017): Vorwort, in: Wilhelm Schapp (2017): Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten, Teilband II, hg. von Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg/München: Alber, 7–13. (= Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass 2)
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Dirk Stederoth (2020): Die Narben der Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und die Psychonalyse, in: Karen Joisten / Jan Schapp / Nicole Thiemer (Hgg.): Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps: Kommentare und Fortsetzungen, Freiburg / München: Alber, 164–176.
Nicole Thiemer (2020a): Essentia oder existentia - vom wesentlichen und geschichtlichen Verstricktsein des Menschen in Geschichten, in: Karen Joisten / Jan Schapp / Nicole Thiemer (Hgg.): Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps: Kommentare und Fortsetzungen, Freiburg / München: Alber, 149–163.
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Nicole Thiemer thiemer[at]sowi[dot]uni-kl[dot]de
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Zitiervorschlag
Nicole Thiemer (2022): Wilhelm Schapp, in: Thomas Gutmann, Eberhard Ortland, Klaus Stierstorfer (Hgg.), Enzyklopädie Recht und Literatur,
doi: 10.17879/71089503293
URL: https://lawandliterature.eu/index.php/de/inhalt?view=article&id=24&catid=11
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