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1. Einleitung

Ein Problem bei der Bewertung der antiken Texte besteht darin, dass nur ein geringer Anteil des gesamten Textkorpus in ausreichendem Umfang überliefert worden ist: Aussagen darüber, wie häufig oder geläufig Gerichtsverhandlungen als Baustein der dramatischen Handlung sind, beziehen sich notwendigerweise lediglich auf das überlieferte Korpus; genauso müssen Beschreibungen der literaturhistorischen Entwicklung dieser Trope in der antiken dramatischen Literatur immer unvollständig bleiben, weil die zeitlichen Lücken zwischen den uns erhaltenen Autoren und Texten einfach zu groß sind, um eine gesicherte, ausreichend detaillierte Entwicklungsgeschichte zeichnen zu können.

Trotz der großen Überlieferungslücken liegt es jedoch nahe, in der Antike einen Zusammenhang zwischen juristischen und dramatischen Szenarien zu vermuten: Viele Redner der Antike waren auch als Anwälte tätig und argumentierten in beeindruckenden Reden für die Unschuld ihrer Mandanten. Die Gerichtsrede spielt demzufolge in der antiken Theorie der Rhetorik eine wichtige Rolle (dazu ausführlich Hohmann 1996). Das genus iudiciale war spätestens zu Ciceros Zeit als Redeform stark formalisiert und hatte einen klar vorgegebenen Aufbau, dessen Abschnitte inhaltlich festgelegt waren; daher ist anzunehmen, dass die Zuhörer*innen eine Gerichtsrede auch in einem anderen Kontext wiedererkennen konnten, zum Beispiel während eines Theaterstücks.

Da sowohl Gerichtsverhandlungen als auch Theateraufführungen (mit Einschränkungen, siehe Schaps 1998) öffentlich zugänglich waren und somit gewissermaßen das gleiche Publikum hatten (Bücher 2008, 268), ergaben sich zwischen beiden Instanzen formale und inhaltliche Wechselwirkungen: Die Redner vor Gericht erlangten Einfluss, indem sie ihre Reden als lange Monologe mit theatralischem Gestus einer breiten Zuhörerschaft vortrugen, während Theaterdichter ihre Stücke (samt der darin enthaltenen Monologe) dazu nutzen konnten, um das politische Geschehen zu kommentieren (siehe dazu detaillierter Parush 2001).

Eine Gerichtsverhandlung mit Einzelpersonen darzustellen, wurde erst mit der Erfindung der antiken Tragödienform durch den Dramaturgen Thespis möglich: Er führte im Jahr 534 v. Chr. die Neuerung ein, dass Bühnenstücke nicht mehr allein durch einen Chor aufgeführt wurden, sondern ein einzelner Schauspieler als Gesprächspartner dem Chor gegenübertrat und verschiedene Solo-Sprechrollen einnahm. Der Tragödiendichter Aischylos erweiterte ca. 50 Jahre später die Ensemble-Zusammensetzung um einen weiteren Solo-Schauspieler; sein Nachfolger Sophokles, dessen Schaffensperiode sich mit der des Aischylos überschnitt, ergänzte den dritten Schauspieler und machte es so überhaupt erst möglich, die Trias von Ankläger, Verteidiger und Richter auf die Bühne zu bringen, ohne dass der Chor stellvertretend für eine dieser Parteien einstehen musste. Aischylos übernahm die Neuerung des Sophokles für sein eigenes Spätwerk, und so können in den Eumeniden, dem letzten Stück der Orestie-Trilogie, die Figuren der Athene, des Apollo und des Orestes als oberste Richterin, Verteidiger und Beschuldigter dem Chor der anklagenden Erinnyen gegenüberstehen. (Zur Entwicklung der griechischen Tragödie siehe Winnington-Ingram et al. 1985; außerdem Aristoteles, Poetik, 1449a15–19).

Der spannende, theatralische Part einer Verhandlung liegt, wie oben bereits erwähnt, nicht so sehr in der Urteilsfindung und -verkündung sowie der anschließenden Bestrafung, sondern vielmehr in den Reden der Ankläger und Verteidiger. Dieser Redestreit zwischen zwei Parteien, der Agon, ist ein fester Bestandteil vieler antiker Komödien und Tragödien – der Konflikt zwischen Prot-agon-ist und Ant-agon-ist kann dabei sowohl zwischen zwei Schauspielern als auch zwischen einem einzelnen Schauspieler und dem Chor ausgetragen werden (Humphreys 1887). Er findet aber in der Regel ohne den institutionellen Rahmen einer Gerichtsverhandlung statt, weil diese für die Auseinandersetzung auf der Bühne nicht notwendig ist. Auch die Frage nach Schuld oder Unschuld des Protagonisten ist in der Tragödie nicht wirklich von Belang: Die Tragik der Figur liegt genau darin, dass der tragische Held im Laufe des Dramas schuldig wird oder bereits schuldig ist – seine Entscheidungen und Handlungen haben darauf keinen direkten Einfluss (dazu anschaulich Sewell-Rutter 2007).

Da also das Format einer Gerichtsverhandlung in der Tragödie keine Auswirkung auf den Spannungsbogen hat, muss die Institution des Gerichts selbst eine bedeutungstragende Rolle spielen, damit ihre Verwendung in der Tragödie gerechtfertigt ist. Das ist der Fall bei Aischylos’ Eumeniden, die oft als gattungsbegründendes Stück für das moderne Rechtsdrama angesehen werden.

2. Aischylos’ Eumeniden

2.1. Kurzvita des Aischylos

Der Dramatiker Aischylos gilt als der Vater der Tragödie, da er der älteste der griechischen Tragiker ist, deren Werk nicht ausschließlich fragmentarisch überliefert wurde. Er wurde ca. 525 v. Chr. in Eleusis (in der Nähe von Athen) geboren und brachte im Alter von 25 Jahren sein erstes tragisches Stück auf die Bühne. Seinen ersten tragischen Wettbewerb gewann er im Alter von ca. 40 Jahren im Jahr 484 v. Chr.; in den folgenden 25 Jahren trug er 12 weitere Siege davon, zuletzt mit der Trilogie der Orestie, bestehend aus den Tragödien Agamemnōn, Choēphoroi und Eumenides, sowie dem Satyrspiel Prōteus. Aischylos starb zwei bis drei Jahre später (456/455) auf Sizilien. Von seinen geschätzt 70 bis 90 Stücken sind lediglich sieben Stücke erhalten, davon eines mit unsicherer Autorschaft. Die Eumeniden sind das letzte Stück, das uns von Aischylos’ Werk überliefert ist (siehe dazu Sommerstein 1989).

2.2. Die Eumeniden

Die tragische Trilogie der Orestie behandelt den Familienfluch der Atreiden und dessen Aufhebung durch das athenische Rechtssystem. Der namensgebende Protagonist Orestes befindet sich in einem zunächst unauflösbaren Dilemma: Der Gott Apollo hatte ihm befohlen, seine Mutter Klytaimnestra zu töten, um Rache dafür zu nehmen, dass sie Orests Vater Agamemnon umgebracht hatte. Für die Tötung seiner Mutter wird Orestes jedoch nun von den Göttinnen der Blutrache, den Erinnyen, verfolgt. Im letzten Stück der Trilogie, den Eumeniden, sucht Orestes auf Anraten Apollos bei Athene (in Athen) Schutz vor den Erinnyen und bittet um die Tilgung seiner Schuld. Um das Dilemma aufzulösen, gründet Athene daraufhin das Gericht des Areopags und entscheidet zusammen mit menschlichen Richtern den Konflikt zwischen den Erinnyen und Orestes (samt seines Verteidigers Apollo) in Form eines Gerichtsverfahrens. Der Prozess findet im Verlauf von ca. 100 Versen statt und nimmt damit ein Zehntel der gesamten Tragödie ein. Orestes wird knapp freigesprochen; die aufgebrachten Erinnyen werden von Athene beschwichtigt, indem sie zu Schutzgöttinnen ernannt werden, und erhalten den neuen Namen „Eumeniden“ (übers.: die Wohlmeinenden).

2.3. Historischer Kontext

Die Tragödie der Eumeniden beinhaltet einen Gründungsmythos für den Areopag, der als Institution so fest im kulturellen Gedächtnis der Stadt Athen verankert ist, dass ein Gericht mit diesem Namen bis in die heutige Zeit besteht: Der Areopag oder Arios Pagos ist heute das oberste Gericht der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit in Griechenland. Die historische Entwicklung des Areopags ist ungewiss: Gesichert scheint nur, dass er eine der ältesten juristischen Institutionen der Stadt war, die im Verlauf der Geschichte nach und nach mehr Verantwortung für das gesellschaftliche und politische Leben in Athen übernahm und schließlich neben der Blutgerichtsbarkeit (also der Verhandlung von Mordfällen) diverse Verwaltungs- und Regierungsaufgaben innehatte (bspw. die Bekämpfung von Korruption und die Erhaltung der demokratischen Ordnung durch die Verurteilung von Staatsfeinden; siehe Conacher 1987, 199, und Ath Pol 3.6 und 8.4).

Ca. drei Jahre vor der Aufführung der Eumeniden in 458 v. Chr. hatte der demokratische Politiker Ephialtes den Areopag von einigen seiner „zusätzlichen Aufgaben“ (Ath Pol 5.2) entbunden und somit dessen Vormachtstellung auf mehrere Gremien aufgespalten. Bevor Ephialtes sein Reformenprogramm weiterführen konnte, wurde er 461 v. Chr. ermordet, was in Athen für zivile Unruhen sorgte, sodass Aischylos die Gefahr eines Bürgerkriegs aufkommen sah.

Das Gerichtsverfahren in den Eumeniden ist formal nicht eindeutig als ein Blutgerichtsverfahren des Areopags erkennbar (Braun 1998, 101; sehr detailliert: Taplin 1977); trotzdem hat Aischylos den Areopag nicht lediglich als Stellvertreter für ein beliebiges Gericht gewählt: Vielmehr deuten die von ihm vorgenommenen Änderungen des mythischen Stoffs darauf hin, dass die Tragödie die aktuellen politischen Entwicklungen kommentiert, die im Zusammenhang mit der Rolle des Areopags in der athenischen Polis stehen.

Aischylos wandelt die mythologischen Vorlagen für seine Tragödie an zwei Punkten ab: Zum einen beschreibt er, dass Orestes nicht in Sparta oder Mykene beheimatet ist, sondern in Argos – diese Änderung ist bedeutsam, weil Athen sich zur Zeit der Aufführung gerade erst vom Bündnispartner Sparta losgesagt hatte und auf Betreiben des Ephialtes ein neues Bündnis mit Argos eingegangen war, welches nun durch Orestes’ Bündnisversprechen in der Tragödie widergespiegelt wird. Zum anderen verändert Aischylos den Gründungsmythos des Areopags dahin gehend, dass das Gericht von Anfang an mit menschlichen Richtern besetzt ist (anstatt mit olympischen Göttern) und daher eine immanent bürgerliche, demokratische Institution ist. Da aus den überlieferten Quellen nicht eindeutig hervorgeht, worin die Reformen des Ephialtes im Bezug auf den Areopag genau bestanden, lässt sich auch nicht genau sagen, ob Aischylos’ Darstellung des Areopags in den Eumeniden diese Reformen unterstützt oder kritisiert. (Für einen ausführlichen Überblick über die Positionen und Argumente in dieser Forschungsfrage siehe Braun 1998, 105–133; zur Politik in den Eumeniden siehe Dover 1957 und in Aischylos’ Werk im Allgemeinen Podlecki 1966.)

2.4. Formen der Gerechtigkeit in den Eumeniden

Im Generellen behandelt die Tragödie als literarische Form die existentielle Individualität des Menschen: Der tragische Protagonist, der ohne eigenes Zutun schuldig wird oder keine Möglichkeit hat, sein Schuldig-Werden zu verhindern, macht die menschliche Komplexität hinter der abstrakten Schuldfrage sichtbar und stellt das vereinfachende Schwarz-Weiß-Modell von Unrecht und Gerechtigkeit infrage (Nicolai 1977, 21). In der Regel wird die Frage nach der Gerechtigkeit im Rahmen der Tragödie nicht beantwortet, sondern bleibt als Denkanstoß und ungelöster Konflikt bestehen. Dass Aischylos in den Eumeniden den Konflikt durch eine differenzierende Gerichtsverhandlung auflöst, weicht daher auffällig vom typischen tragischen Format ab. (Siehe hierzu Vismann 2006; zu den Unterschieden zum klassischen Hikesie-Drama mit weiteren Literaturverweisen siehe Bernek 2011.)

Neben dem aus heutiger Sicht unklaren Kommentar zu den Reformen des Ephialtes nutzt Aischylos das dargestellte Verfahren auch dazu, zwei Arten der Gerechtigkeit miteinander zu vergleichen (Conacher 1987, 4–5): Das Prinzip der Blutrache, die durch eine Privatperson ausgeführt wird und im Stück durch die Erinnyen verkörpert wird, steht der Institution des städtischen Gerichts gegenüber, in dem der Staat bzw. ein Gremium unparteiischer Richter für Gerechtigkeit sorgt. In den Eumeniden führt Athene den Areopag als ebensolche Institution ein.

Die Art der Gerechtigkeit, die durch ein unparteiisches Gericht wie den Areopag ausgeübt wird, macht es notwendig, zwischen verschiedenen Tätertypen zu differenzieren und die Beurteilung der Tat selbst ins Auge zu fassen. Walter Nicolai beleuchtet die verschiedenen Aspekte dieser Ausdifferenzierung in seinem Artikel „Zur Theodizee des Aischylos (am Beispiel der Orestie)“:

Aischylos unterscheidet in der Orestie zwischen dem „untragischen“ und dem tragischen Täter und deutet an, dass die Konsequenzen ihrer Taten für beide Tätertypen unterschiedlich sind (Nicolai 1977, 25f.): Klytaimnestra ist eine „untragische“ Täterin, weil sie aus eigenem Antrieb handelt. Sie ist in vollem Umfang moralisch schuldig, daher ist ihre Strafe (die Blutrache durch ihren Sohn) ein Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit und wird folgerichtig im Drama durch Apollo befohlen. Im Gegensatz dazu fühlt sich Orestes als tragischer Täter zur Ermordung seiner Mutter (als Rache für seinen Vater) wie auch zur Sühne für dieses Verbrechen moralisch verpflichtet, handelt jedoch nicht aus eigenem Willen, sondern auf Befehl des Apollo. Die Konsequenzen seiner Tat sind für ihn tiefgreifender als die eines „untragischen“ Täters: Orestes wird durch die Verfolgung durch die Erinnyen nicht nur physisch bestraft, sondern durchlebt auch eine psychologische Belastung, weil er sich der moralischen Schwere seiner Tat bewusst ist.

Indem Aischylos den Tätern vielschichtige Motive zuschreibt, differenziert er die Beurteilung der Tat und stellt die Art der Gerechtigkeit infrage, die durch die Erinnyen als Blutrache ausgeübt wird (Nicolai 1977, 21 f.): Für sie ist lediglich die Frage nach der Täterschaft von Belang (v. 425), nicht jedoch die Beweggründe des Täters; sie rächen nach dem Prinzip der exakten Vergeltung (drasanti pathein, übers. „Gleiches erleiden“). Dagegen übt die gerichtliche Strafverfolgung keine Rache, sondern legt eine Strafe fest, deren Ausmaß durch die Umstände der Tat und das Tatmotiv beeinflusst wird: Athene führt die Frage nach den Tatumständen im Gespräch mit den Erinnyen an (v. 426) und bringt diese dazu, diese neuartige Sichtweise als Grundlage für die Urteilsfindung anzunehmen.

Weil die Erinnyen am Ende der Tragödie nicht vertrieben werden, sondern als neue Schutzgöttinnen der rechtlichen Ordnung in Athen residieren, wird deutlich, dass die Bestrafung durch den Areopag die Blutrache der Erinnyen nicht vollständig ablöst: Überall dort, wo die Zuständigkeit des Areopags nicht greift oder andere Rechtsprechung nicht ausreichend vorhanden ist, findet die individualisierte Rache der Erinnyen weiterhin Anwendung (Nicolai 1977, 23f.). Rache stellt zwar nur die zweitbeste Form der Gerechtigkeit dar, weil sie der Tat gerecht wird, aber nicht immer dem Täter, dessen Motive sie nicht berücksichtigt – trotzdem betonen die Erinnyen und auch Athene in ihrer abschließenden Rede mehrfach, dass die Furcht vor Bestrafung und Vergeltung die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen und Staaten sich an geltendes Recht halten und die Bürger Athens von den geordneten Verhältnissen der Polis profitieren können (dazu ausführlicher: Bernek 2011, 107 und 114). Daher kommt den Erinnyen nicht nur die Aufgabe zu, die Institution des Areopags zu schützen, sondern ihre eigene Form der Gerechtigkeit weiterhin auszuüben, wenn auch in einem neu definierten Umfeld (Conacher 1987, 169).

3. Gerichtsszenen in der Literatur nach Aischylos

3.1. Direkte Nachfolge

Die Eumeniden des Aischylos sind mehrfach in der griechischen und lateinischen Literatur aufgegriffen worden.

Der griechische Tragödiendichter Euripides (480–406 v. Chr.) spielt in zwei seiner Tragödien auf Aischylos’ Bearbeitung des Stoffes an: Die gesamte Handlung der Eumeniden samt des Areopag-Urteils wird in Euripides’ Tragödie Electra in Form einer Prophezeiung vorhergesagt (vv. 1254–1269). Euripides’ Drama Orestes liegt zeitlich knapp vor der Handlung der Eumeniden, weicht aber an einigen Punkten von Aischylos’ Version ab: Orestes wird zunächst für die Tötung seiner Mutter vor einem anderen Gericht zum Tode verurteilt – diese Verhandlung findet aber nicht auf der Bühne statt, sondern wird nur von den Figuren erzählt. Apollo rettet Orestes und prophezeit ihm die Verhandlung vor dem Areopag in Athen, die bei Euripides allerdings von den Eumeniden und den Göttern abgehalten wird anstatt von menschlichen Richtern, wie es bei Aischylos der Fall war (vv. 1648–1652).

Die Tragödie Eumenides des lateinischen Dichters Ennius (ca. 239–169 v. Chr.) war vermutlich eine freie Nachdichtung des griechischen Originals; sie ist nur fragmentarisch erhalten, aber ein Fragment lässt vermuten, dass auch Ennius’ Version eine Gerichtsverhandlung beinhaltete:

dico vicisse Orestem; vos ab hoc facessite
Ich sage, dass Orestes gewonnen hat; lasst von ihm ab
(Fr. 53; Zählung nach Goldberg/Manuwald 2018.)

Zuletzt ist uns ein spätlateinisches Gedicht (evtl. von Drakontius) aus dem 5. Jh. nach Christus überliefert. Es handelt sich um ein Pastiche mehrerer Orestes-Erzählungen aus verschiedenen Quellen: Orestes wird vom Sohn seines Rivalen Pyrrhus vor dem Areopag für die Ermordung von Klytaimnestra und Pyrrhus angeklagt. Als die Urteilsfindung in einem Unentschieden endet, erscheint Athene und votiert für Orestes, um das Unentschieden aufzulösen und Orestes freizusprechen.

3.2. Aristophanes’ Wespen (Sphēkes)

Aristophanes’ Werke zählen zur Gattung der „Alten Komödie“ (5. Jh. v. Chr.), die dafür bekannt war, politische Entwicklungen kritisch zu kommentieren und zeitgenössische Politiker zu karikieren. Da Politiker und Demagogen versuchten, Einfluss auf die bürgerlichen Gerichte auszuüben, gerieten infolgedessen auch die Gerichte selbst in den Fokus der komödiantischen Satire.

In seiner Komödie Die Wespen (Sphēkes) aus dem Jahr 422 v. Chr. kritisiert Aristophanes die Politik des Demagogen Kleon, der sich die Unterstützung der ärmeren Athener Bürger sicherte, indem er die Entlohnung für das freiwillige Richteramt auf 3 Obolen pro Tag erhöhte. (Zum Vergleich: Für 1 Obole erhielt man zu dieser Zeit ca. 3 Liter Wein; Davidson 1998, 59). Aristophanes unterstellt Kleon, die Gerichte durch diese und weitere Maßnahmen für seine eigenen politischen Pläne zu instrumentalisieren; in der Komödie erwähnt der Antagonist dementsprechend, dass die Entlohnung ihm ein finanziell unabhängiges Leben im Alter ermöglicht und es ihm gefällt, dass die adligen Athener ihm schmeicheln, damit er in den Verhandlungen zu ihren Gunsten entscheidet.

In der Komödie versucht der Protagonist Bdelykleon (übers.: Feind des Kleon), seinen Vater Philokleon (übers.: Freund des Kleon) von dessen „Gerichtsbesessenheit“ abzubringen, indem er seinem Vater als Alternative zum öffentlichen Gericht den Vorsitz über ein Hausgericht anbietet, bei dem er über häusliche Dispute richten kann. Der Prozess, der daraufhin auf der Bühne stattfindet, ist jedoch gänzlich lächerlich: Zwei Haushunde streiten sich um gestohlenes Essen, Küchengeräte werden als Zeugen aufgerufen und das jaulende Klagen eines Welpenrudels soll den Vater dem Dieb gegenüber milde stimmen. Doch obwohl Philokleon sich davon nicht beeindrucken lässt, überlistet sein Sohn ihn bei der Urteilsfindung und sorgt dafür, dass Philokleon für einen Freispruch stimmt, was diesen entsetzt, da er die öffentlichen Verhandlungen gewöhnlich mit einem Schuldspruch beendet. Dieser Schauprozess umfasst mehrere Elemente, die Teil einer zeitgenössischen Gerichtsverhandlung waren, bspw. die Anhörung von Zeugen für die Anklage und für die Verteidigung, das emotionale Auftreten von Familienmitgliedern (hier: den Welpen) des Angeklagten, die den Richter in seiner Urteilsfindung beeinflussen sollen, sowie die Urteilsfindung per Abstimmung über Wahlurnen, in die die vorsitzenden Richter ihren Stimmstein legten.

Obwohl die Thematik der Komödie die Darstellung einer echten Gerichtsverhandlung nahelegen würde, bringt Aristophanes lediglich eine Parodie einer solchen Verhandlung auf die Bühne. Die Diskussion zwischen Bdelykleon und seinem Vater Philokleon, bei der sie über die Vor- und Nachteile des Richteramtes sprechen, wird zwar als Agon (Redewettstreit) vor einem Chor von alten Männern vorgetragen, die wie Philokleon selbst als Richter arbeiten, doch der formale Rahmen einer Gerichtsverhandlung wird nicht eingehalten. Dass Bdelykleons Argumente am Ende den Chor der alten Richter überzeugen, hat keine Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Komödie, weil Philokleon weiterhin gerichtsversessen bleibt, obwohl es ihm im Agon nicht gelang, die Gegenargumente seines Sohnes zu entkräften.

3.3. Der antike griechische Roman

Andere literarische Werke, in denen Gerichtsfahren Bestandteil der Handlung sind, sind die antiken griechischen Romane, deren Handlung sich über einen größeren Zeitraum erstreckt als die Handlung der antiken Tragödien. Die antiken griechischen Romane sind in heutiger Zeit am ehesten mit Abenteuer- oder Liebesromanen vergleichbar, die das Schicksal von ein oder zwei Protagonisten über einen längeren Zeitraum verfolgen. Die Gerichtsverhandlung ist darin nicht das zentrale Ereignis der gesamten Handlung, sondern Inhalt einer Handlungsepisode und bspw. Auslöser für einen Ortswechsel (qua Verbannung oder Flucht) oder einen Wandel des Schicksals der Hauptperson (zum Guten oder zum Schlechten, je nach Ausgang der Verhandlung). Dieses Thema ist einer der Forschungsschwerpunkte von Saundra C. Schwartz, siehe Schwartz 1998, dies. 2010 und dies. 2016.

Nachweise

Textausgaben

Aeschylus, Eumenides, Edited with Introduction, Translation, and Commentary by Anthony J. Podlecki, Warminster: Aris & Phillips, 1989.

Aeschylus, Eumenides, Edited by Alan H. Sommerstein, Cambridge, CUP, 1989.

Aischylos, Tragödien, übersetzt von Oskar Werner, hg. von Bernhard Zimmermann, Sammlung Tusculum, Berlin/Boston: De Gruyter, 2011, darin Eumeniden: 398–467.

Aristophanes, Die Wespen, übersetzt von Lutz Lenz, Griechische Dramen, Berlin/München/Boston: De Gruyter, 2014.

Aristoteles, Poetik, übersetzt und kommentiert von Arbogast Schmitt, Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5, Berlin/Boston: Akademie Verlag, 2008.

Aristoteles, Der Staat der Athener, übersetzt von Martin Dreher, Stuttgart: Reclam, 1993 (= Ath Pol).

Aristotle, Athenian Constitution. Eudemian Ethics. Virtues and Vices, Translated by H. Rackham, Loeb Classical Library 285, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1935 (= Ath Pol).

Ennius, Fragmentary Republican Latin, Volume II: Ennius, Dramatic Fragments. Minor Works, Edited and translated by Sander M. Goldberg, Gesine Manuwald, Loeb Classical Library 537, Cambridge, MA: Harvard University Press, 2018.

Quintus Ennius, Fragmente (Auswahl), Lateinisch/Deutsch. Ausgew., übers. und hrsg. von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam, 2009.

Euripides, Helen. Phoenician Women. Orestes, Edited and translated by David Kovacs, Loeb Classical Library 11, Cambridge, MA: Harvard University Press, 2002.

Euripides, Tragödien, übersetzt von Bernhard Zimmermann, Sammlung Tusculum, Berlin/Boston: De Gruyter, 2014, darin Elektra: 367–477, Orestes: 975–1113.

Sekundärliteratur

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Zitationsvorschlag

Vera Engels (2022): Gericht und Drama in der Antike, in: Thomas Gutmann, Eberhard Ortland, Klaus Stierstorfer (Hgg.), Enzyklopädie Recht und Literatur,
doi: 10.17879/22049777362
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