Gerichtsszenen im englischsprachigen Theater
Stand 22. Dezember 2022
engl. trial scenes; tribunal play; courtroom drama
Obwohl die Darstellung von Gerichtsverhandlungen durch die gesamte Geschichte des englischsprachigen Theaters hinweg eine wichtige Rolle spielt, gibt es keinen gängigen Gattungsbegriff (wie etwa das deutsche ‚Prozessdrama‘ oder auch die vorwiegend zur Klassifizierung entsprechender Filme verwendete Bezeichnung courtroom drama), unter den sich solche Stücke subsumieren ließen. Eine begrifflich besser erschlossene Ausnahme stellt allenfalls das tribunal play als eigenständiges Genre dar (s.u. 2). Einer gattungsbegrifflichen Festlegung stehen die sehr unterschiedlichen Funktionen entgegen, die Gerichtsprozessen in englischsprachigen Dramen zukommen. Wie im Folgenden weiter ausgeführt wird, steigern sie die Spannung oder verstärken voyeuristische Impulse, verhandeln individuelle oder kollektive Identitäten und Verantwortlichkeiten, hinterfragen Konstruktionen von ‚Wahrheit‘, debattieren moralische Fragen, intervenieren in gesellschaftliche und politische Diskurse oder kritisieren rechtliche Institutionen.
1. Vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert
Die Ursprünge der Gerichtsverhandlung im englischsprachigen Drama reichen bis zu den mittelalterlichen mystery plays zurück, in denen biblische Geschichten auf die Bühne gebracht wurden. Zu den bekanntesten englischen mystery plays gehören die sogenannten cycles, etwa der York oder der Chester Cycle. Sowohl diese größeren als auch kleinere mysteries, wie das vermutlich erstmals im Jahr 1220 in Beverley aufgeführte The Lord’s Resurrection, zeigen u.a. die Verurteilung Jesu Christi (Harris 1992, 109–111). Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts differenziert sich das englische Rechtswesen zunehmend aus und entfernt sich dabei sukzessive von den Rechtstraditionen des Gelehrten Rechts in Kontinentaleuropa. Literarisch werden diese Entwicklungen vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit in den populären morality plays verhandelt, in denen verschiedene Tugenden und Laster um die Gunst des Helden werben. Mankind (anonym, ca. 1470), eines der sowohl bekanntesten als auch typischsten Beispiele, stellt den durch Lasterhaftigkeit bedingten Niedergang des generisch benannten Helden sowie seine anschließende Reue dar. Als eines von zahlreichen meta-dramatischen Elementen parodiert das Stück das Sakrament der Buße in Form einer Gerichtsverhandlung, bei der die Laster versuchen, Mankind zu verführen (Harris 1992, 164). Während die Figur der Justice in früheren Stücken (z.B. dem anonymen The Castle of Perseverance, ca. 1405) primär als göttliche Instanz in Form des Jüngsten Gerichtes dargestellt wird, nimmt diese Figur in späteren Stücken wie Liberality and Prodigality (anonym, ca. 1567) häufiger die Gestalt eines weltlichen Richters an (McCutchan 1958, 405 f.). Ab dem 16. Jh. tritt Justice sukzessive in Opposition zu Equity und wird schließlich sogar durch letztere ersetzt (ebd., 410).
Diese Entwicklung im Bereich des Dramas korrespondiert mit der rechtsgeschichtlichen Entwicklung, in der der Court of Chancery als court of equity zunehmend genutzt wird, um bestimmte Rigiditäten des zentralistischen, durch königliche Erlasse und parlamentarische Statuten begründeten englischen common law zu kompensieren. Seit Ende des 16. Jahrhunderts konkurrieren nebeneinanderstehende Gerichtsbarkeiten um Zuständigkeitsbereiche sowie Autorität in der Rechtsprechung (Raffield 2014, 53). Die Intransparenz und Unsicherheit der Gerichtsverfahren sowie das daraus resultierende Misstrauen in das Recht als Institution spiegeln sich idealtypisch im frühneuenglischen Genre der Rachetragödie wieder, in der vom Staat enttäuschte Rächer sich selbst auf die Suche nach Gerechtigkeit begeben (Eisaman Maus 1995, ix; zur Verhandlung von rechtlichen Fragen im Rahmen der revenge tragedy s.a. Mukherji 2009 und Dunne 2016). In zahlreichen Elisabethanischen und Jakobinischen revenge tragedies – etwa in Cyril Tourneurs Atheist’s Tragedy (1609) oder John Websters The White Devil (1612) – finden sich Darstellungen dysfunktionaler Gerichtsverhandlungen, denen eine zentrale Rolle für den tragischen Plot des Dramas und dessen Lösung zukommt. Da die meisten dieser Stücke und somit auch Prozesse außerhalb Englands (z.B. in Italien oder Spanien) spielen, werden hier immer wieder englische und kontinentaleuropäische Rechtsbräuche implizit zueinander in Beziehung gesetzt (Syme 2012, 69 f.).
Auch in den Dramen Shakespeares werden die Praktiken der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit verschiedentlich kritisch dargestellt, so z.B. in der Komödie Der Kaufmann von Venedig (The Merchant of Venice, ca. 1605). Der jüdische Geldverleiher Shylock sucht auf dem Rechtsweg Vergeltung für die Demütigungen, die er im christlichen Venedig ständig erdulden muss. Ganz im Sinne eines der zahlreichen im Stück perpetuierten antisemitischen Klischees bringt er den venezianischen Kaufmann Antonio dazu, einen Schuldschein über ein zinsloses Darlehen zu unterschreiben. Für den Fall, dass Antonio das Geld nicht rechtzeitig zurückzahlen sollte, räumt er Shylock ersatzweise einen Anspruch auf ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper ein. Als Shylock sein Recht aus diesem Vertrag gerichtlich durchzusetzen sucht, bekniet der Richter den Kläger mehrfach, Gnade walten zu lassen. Doch Shylock beharrt auf der Gültigkeit seines Vertrags:
The pound of flesh which I demand of him
Is dearly bought; ’tis mine, and I will have it.
If you deny me, fie upon your law:
There is no force in the decrees of Venice.
I stand for judgement: answer, shall I have it? (Shakespeare 2010, 4.1.98–102).
Der Klage wird schließlich stattgegeben, doch dank eines Kunstgriffs des Richters – der, ein Hinweis auf die dem Gerichtsverfahren inhärente Theatralität (Farmer 2010, 467), durch die verkleidete Portia gespielt wird – kann der Kläger sein Recht am Ende doch nicht ausüben: Shylock habe zwar Anspruch auf das Fleisch, nicht aber auf das Blut Antonios. Diese willkürlich erscheinende Lösung kann durchaus als kritischer Kommentar auf die Fallstricke des elisabethanischen Vertragsrechts gelesen werden (Raffield 2014, 55).
Auch Shakespeares Maß für Maß (Measure for Measure, ca. 1604) entwirft ein von Machtmissbrauch geprägtes Bild der Rechtsinstitutionen. Nachdem der Wiener Statthalter Angelo völlig maßlos den jungen Claudio dafür zum Tode verurteilt hat, dass dessen Verlobte bereits vor der Hochzeit ein Kind von ihm erwartet, bittet Claudios Schwester Isabella den Statthalter um Gnade. Angelo bietet ihr an, Claudio zu verschonen, verlangt aber im Gegenzug sexuelle Gefügigkeit von ihr. In der insgesamt fragwürdigen Geschlechterpolitik des Stückes erscheint sexualisierte Gewalt sowohl als das zu bestrafende Vergehen wie auch als private Vergeltung und als Akt der amtlich verfügten Bestrafung. Bevor Angelo zu Isabella ins Bett steigt, ist diese durch seine frühere Verlobte Mariana ausgetauscht worden, mit der er nun, ohne es zu ahnen, die Ehe vollzieht. Im abschließenden Prozess kann das Angelo drohende Todesurteil nur abgewendet werden, indem er dazu verurteilt wird, Mariana zu heiraten. Frauen werden hier also gewissermaßen zu Objekten des Rechts. Der Prozess, dem sich Angelo im letzten Akt stellen muss, ist seinerseits von zahlreichen Widersprüchen und arbiträren Momenten geprägt – eine Parallele zu den Unwägbarkeiten des englischen Gerichtssystems und besonders dem Modus operandi des Court of Chancery (Raffield 2014, 55; für eine detailliertere Diskussion der verschiedenen Gerichtsszenen s.a. Bernthal 1992). In allen hier genannten Stücken verhindern Richter und andere professionelle Vertreter des Gesetzes eher dessen Umsetzung, als dass sie sie garantieren (Syme 2012, 70 f.). So stellen diese Stücke die Autorität, Integrität und Unabhängigkeit der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit in Frage.
Die Blüte des englischsprachigen Theaters in der frühen Neuzeit endete turbulent, mit Theaterschließungen vor der Stuart-Restauration (1660–1688), unter dem Druck der Puritanischen Zensur und dem anschließenden, rigorosen Lizenzregime nach der Restauration (Thomson 2006, 3–29; 69–88; 221–239). Dem englischsprachigen Drama des 18. und 19. Jahrhunderts schreibt die Literaturgeschichte nur mehr eine untergeordnete Rolle zu – vor allem angesichts des gleichzeitigen rise of the novel. Obwohl diese Zeit, was die Anzahl und Bandbreite der geschriebenen und aufgeführten Stücke betrifft, durchaus fruchtbar war, fanden nur wenige dieser Stücke Eingang in den literarischen Kanon oder das heutige Bühnenrepertoire. Die meisten der eher apokryphen Texte sind teilweise bis gänzlich verloren oder nur schwer zugänglich und wurden dementsprechend auch in der Forschung kaum diskutiert. In Anbetracht einer solchen Forschungslücke gestaltet es sich schwierig, Dramen mit signifikanten Gerichtsprozessen herauszuheben. Auffällig ist jedoch, dass Gerichtsverhandlungen in dieser Periode ein beliebtes Mittel trivialerer Dramatik sind. Der Licensing Act of 1737 erlaubte das kommerzielle Aufführen von dramatischen Werken nur den wenigen Theatern mit königlicher Lizenz und verlangte zudem, dass alle Texte vorab dem Lordkanzler vorgelegt werden mussten (ibid., 88). Aus Perspektive der Theater bot das Recht somit reichlich Anlass zur Kritik. Da diese strengen Regulierungen nicht in gleicher Form für Stücke mit musikalischer Begleitung galten, schaffte insbesondere das Musiktheater im 18. und 19. Jahrhunderts vielfältige neue Gattungsformen. Stars der sich rasant entwickelnden Szene des Musiktheaters sind im späteren 19. Jh. u.a. W.S. Gilbert und Arthur Sullivan, in deren komischer Oper Trial by Jury (1875) eine Frau ihren früheren Verlobten verklagt, weil er sein Eheversprechen gebrochen hat (zur Verhandlung eines breach of promise Verfahrens in Trial by Jury s.a. Lettmaier 2009, 158–165). In einer für Gilbert und Sullivan typischen absurden Wendung verlieben sich sowohl die gesamte Jury als auch der Richter in die Klägerin und urteilen daher in ihrem Sinne. Professionelle Richter und Laien erscheinen hier demnach gleichermaßen nutzlos, und die generelle Fairness von Gerichtsprozessen wird – wenngleich in milder Satire – in Frage gestellt. Ernsthaftere Beispiele für Gerichtsverhandlungen finden sich in sensation plays wie Dion Boucicaults The Trial of Effie Deans; Or, The Heart of Midlothian (1863), einer Adaptation von Walter Scotts gleichnamigen Roman. Ein weiteres Beispiel für dieses Genre ist W. Travers’ und N. Lees Jessie Farleigh (1863), welches den Prozess um einen Kindesmord thematisiert. Das sensation play erfreut sich aufgrund seiner ‚authentischen‘ Darstellung sensationeller Ereignisse wie z.B. Gerichtsprozessen großer Beliebtheit, vermittelt es dem Publikum in der gemeinschaftlichen Betrachtung der Ereignisse doch ein Gefühl von gesellschaftlichem Zusammenhalt (Voskuil 2002, 245).
Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die englischsprachige Theaterlandschaft zu einer zunehmend transnationalen Industrie. Schauspielertruppen reisen zwischen Großbritannien und den USA hin und her (Thompson 2016, 71), Theaterformen und -Traditionen – von Shakespeare-Dramen bis zu den sogenannten minstrel shows, einer Unterhaltungsform des 19. Jahrhunderts, in der schwarz geschminkte Weiße Schauspieler rassistische Stereotype über Schwarze auf die Bühne brachten (Brody 1998, 74) – beginnen, sich gegenseitig zu beeinflussen und zu vermischen. Da aber gleichzeitig immer wieder auch geografisch bzw. kulturell spezifische Themen in den Blick genommen werden, adressieren die folgenden Abschnitte nach einem Exkurs zum verbatim theatre und tribunal play die Rolle von Gerichtsverhandlungen im Drama des 20. und 21. Jahrhunderts jeweils separat für Großbritannien, postkoloniale Kontexte (exemplarisch: Irland und Südafrika) sowie die USA.
2. Verbatim Formate: Das Tribunal Play
Im 20. Jh. steigt das Interesse an Gerichtsverhandlungen auf der Bühne erneut an, und zwar verstärkt in dokumentarischen Formaten. Viele der im Folgenden genannten Werke aus unterschiedlichen geografischen Regionen und dramatischen Traditionen basieren auf realen Gerichtsprozessen, woraus sich seit Mitte der 1980er Jahre das verbatim theatre als Untergattung des Dokumentartheaters entwickelt. Der Begriff verbatim theatre wurde erstmals 1987 von Derek Paget in England verwendet, aber das Genre hat seinen Ursprung bereits in den USA der 1930er Jahre, als die Regierung Theater damit beauftragte, dokumentarische Stücke über aktuelle soziale Debatten zu produzieren. Es gibt Parallelen zu dokumentarischen Theatertexten aus dem deutschsprachigen Raum, z.B. von Peter Weiss, Heinar Kipphardt und Hans Magnus Enzensberger, die auf Protokollen realer Gerichtsprozesse und Verhöre basieren (Lane 2010, 59; s.a. Wilhelms 2022, Rn ##). Genau genommen bezieht sich der Begriff verbatim theatre aber nicht auf Gerichtsszenen per se. Vielmehr versteht man hierunter alle Theatertexte, die gänzlich oder weitgehend wörtliche Aussagen realer Personen wiedergeben, um möglichst allen beteiligten Akteur*innen innerhalb eines Konfliktes Gehör zu verschaffen. Allerdings sind viele Stücke deutlich flexibler als diese prototypische Definition, weshalb das verbatim play weniger als eigenständige Form, sondern als dramatische Technik verstanden wird (Lane 2010, 65).
Aufgrund ihrer dialogischen Verlaufsform und lückenlosen Protokollierung bieten Gerichtsverhandlungen besonders produktive Quellen für verbatim theatre. Eine Unterkategorie des verbatim theatre bildet demnach das tribunal play, in dem tatsächliche Gerichtsprozesse scheinbar exakt auf der Bühne nachgespielt werden. Die Betonung liegt hier auf scheinbar; auch wenn Autor*innen von verbatim plays als bloße Editor*innen weitgehend hinter ihr dokumentarisches Material zurücktreten, bleibt der Eindruck einer unmittelbaren Vergegenwärtigung dessen, „wie es wirklich gewesen ist“, illusionär. Die Simulation von Realität und Wahrheit ist gleichermaßen Werkzeug wie Grenze der dramatischen Handlungsmöglichkeit, da das tribunal play mit seinem Anspruch auf ‚Wahrhaftigkeit‘ (Hammond & Steward 2008, 10) eine andere Form der Vertrauensebene mit dem Publikum schafft, als dies im Drama üblicherweise der Fall ist (Soncini 2015, 396). Was genau dabei jeweils unter Wahrheit zu verstehen ist, entzieht sich freilich der eindeutigen Bestimmung, wie ja auch schon in tatsächlichen Gerichtsverhandlungen selbst ein Wahrheitsanspruch für die Entscheidung ebenso wenig erhoben wird wie für die ihr zugrunde gelegten Annahmen über den Sachverhalt (Farmer 2010, 470 f.). Ziel solcher Stücke ist nicht nur, die Parallelen zwischen gerichtlicher und theatraler Performanz herauszustellen, sondern auch die Inszenierungsmechanismen politischer Strategie und medialer Berichterstattung zu dechiffrieren. Dem publikumsfokussierten Charakter eines Tribunals entsprechend nimmt das Publikum die Rolle der Jury ein, die abschließend ein Urteil über das Gesehene fällen muss (Lane 2010, 59) – ein Urteil, das die Stücke selbst ausdrücklich nicht vorwegnehmen.
Geprägt wurde das tribunal play vor allem durch das Londoner Tricycle Theatre (seit 2018 Kiln Theatre), das in der Zeit von 1994 bis 2012 reale Gerichtsprozesse von breitem öffentlichem Interesse auf die Bühne brachte (Kent et al. 2014). Darunter waren u.a. Untersuchungen zu Großbritanniens Beteiligung am Irakkrieg (Justifying War: Scenes from the Hutton Enquiry, Hg. Richard Norton-Taylor, 2003; Called to Account: The indictment of Anthony Charles Lynton Blair for the crime of aggression against Iraq – a hearing, Hg. Kent/Norton-Taylor, 2007), zu den Londoner Ausschreitungen im Jahr 2011 (The Riots, Hg. Gillian Slovo, 2011) oder auch zu den Opfern der von der britischen Armee gewaltsam aufgelösten Demonstration im nordirischen Derry vom 30. Januar 1972 (Bloody Sunday: Scenes from the Saville Inquiry, Hg. Norton-Taylor, 2005). Derartige Aufführungen fungieren als theatrale Interventionen in den öffentlichen Diskurs zu diesen Ereignissen, der durch unzureichende oder einseitige mediale Berichterstattung geprägt ist. Erklärtes Ziel solcher Projekte ist die Annäherung an eine ‚Wahrheit‘ des Geschehenen, die einer breiten Öffentlichkeit bis dato vorenthalten wurde (Hammond & Steward 2008, 106; Billington 2014). Richard Norton-Taylor, der als Journalist und Arrangeur zahlreicher tribunal plays unmittelbar in deren Entstehungsprozess involviert war, beschreibt diesen als „the methodical process of cutting through these layers of duplicity […] until an accurate, though not always orderly, account emerge[s]“ (zit. in Hammond & Steward 2008, 106).
3. Großbritannien im 20. und 21. Jahrhundert
Im britischen Drama des 20. Jahrhunderts findet man Gerichtsprozesse zunächst in späten Ausläufern des Golden Age of Crime Fiction. So widmet sich Agatha Christies Zeugin der Anklage (Witness for the Prosecution, 1953, eine Adaption ihrer älteren Kurzgeschichte „Traitor’s Hands“ von 1925) dem theatralen Charakter von Gerichtsverhandlungen und inszeniert u.a. das ritualisierte Ankleiden der Funktionsträger, das choreografierte Kreuzverhör der Zeugen durch Ankläger und Verteidigung und die Ansprache an die Geschworenen, die auf der Bühne als zur Entscheidung verpflichtetes Publikum zu Gericht sitzen, als wesentliche Momente, die die Urteilsfindung beeinflussen (Billington 2017). Auf diese Weise unterstreicht das Stück sowohl die Bedeutung von Mündlichkeit als auch von Unmittelbarkeit: „all the actors in the drama that is the trial must be present and that judgment, whether by judge or jury, is to be based on what has taken place within the spatial and temporal limits of the courtroom“ (Farmer 2010, 467). Während Christies Stück sich dem Mord auf eine ernsthafte Weise nähert, gewinnt John Mortimer dem Thema in seiner Gerichtssatire The Dock Brief (1957) eher komische Seiten ab. Das Stück folgt einem Rechtsanwalt, der mit Vergnügen einen Angeklagten verteidigt, der wegen Mordes an seiner Ehefrau vor Gericht steht.
Dieser eher populären Form der Unterhaltung stehen politischere Stücke gegenüber, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Debatten oder auch konkreten Skandalen beschäftigen. Terence Rattigans The Winslow Boy (1946) dramatisiert den in der Presse viel besprochenen Fall von George Archer-Shee, der als Kadett am Royal Naval College in Osborne beschuldigt wurde, eine Postüberweisung eines Kameraden gestohlen zu haben. Rattigan zeigt die problematischen Auswirkungen gesellschaftlichen Drucks, der eine makellose Reputation verlangt, die jedoch jederzeit durch falsche Anschuldigungen beschädigt werden und dadurch ganze Familien ins Verderben stürzen kann. Die zentrale Gerichtsszene des Stücks wird dabei lediglich durch Angehörige der Familie, Hausangestellte, Zeugen und Anwälte wiedergegeben, wodurch Rattigan den Fokus vom Ablauf des Prozesses auf dessen öffentliche Wahrnehmung lenkt (Feldman 2014, 285). Die gesellschaftliche Fixierung auf Moral und Anstand – und nicht zuletzt die Rolle der Gerichtsbarkeit als Hüterin dieser Werte – werden auch in Cause Célèbre (1977) kritisiert. Rattigan verarbeitet hier die sogenannten Rattenbury Trials aus den 1930er Jahren, in denen Alma Rattenbury beschuldigt wurde, gemeinsam mit ihrem gerade 18-jährigen Liebhaber ihren Ehemann getötet zu haben. Gemäß Rattigans generellem Interesse an (sexual)moralischen Fragestellungen stehen im Zentrum des Stückes jedoch nicht der Mord selbst, sondern das reißerische und bigotte Entsetzen, mit dem in den Medien über diesen Fall debattiert wurde. Ein weiteres Stück, das ebenfalls Fragen von Moral und Gewissen diskutiert, ist Robert Bolts A Man for All Seasons (1960). Bolt beschäftigt sich mit dem Lordkanzler Thomas Morus (1478–1535) und dessen Weigerung, der Scheidung Heinrich VIII von seiner ersten Ehefrau Katharina von Aragon zuzustimmen und dem König so eine erneute Heirat zu ermöglichen. Wie auch in Fred Zimmermans gleichnamiger Filmadaptation aus dem Jahr 1966 nimmt der Prozess, in dem Morus zum Tode verurteilt wird, eine zentrale Rolle im Stück ein.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wendet sich das britische Drama wieder intensiver dem Rechtssystem und seinen Institutionen zu. Am radikalsten tut dies David Hares Murmuring Judges (1991), der zweite Teil einer Trilogie, welche die drei großen Institutionen Justizwesen, Kirche (Racing Demon, 1990) und Labour Party (The Absence of War, 1993) untersucht. In Murmuring Judges unternimmt Hare einen scharfen Angriff auf das Justizsystem, indem er sich einem strittigen Fall aus den jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln des Gerichts, der Polizei und des Justizvollzugs nähert und dadurch eine Reihe systemischer Missstände zu Tage fördert. Das Gerichtswesen wird hier als elitär, voreingenommen, korrupt und selbstbezogen dargestellt. So glaubt etwa Justice Cuddeford: „It’s the judge’s court. It’s his. He runs it as he sees fit. And, in English law, it’s very important he does“ (Hare 1993, 7). Das verbatim play (s.o. 2) The Colour of Justice (Hg. Kent/ Norton-Taylor, 1999) führt als ein strukturelles Problem der britischen Justiz ihren inhärenten Rassismus vor. Das Stück basiert auf den Protokollen der Untersuchungen zum Mord an dem Schwarzen Oberschüler Stephen Lawrence aus dem Jahr 1993, der erstmals eine breite gesellschaftliche Debatte über institutionellen Rassismus in der britischen Justiz lostrat. Die Inszenierung des Stückes am Tricycle Theatre war so erfolgreich, dass es schließlich von der BBC übertragen wurde und einige brisante Details des Falles somit erstmals an eine breitere Öffentlichkeit gelangten (Billington 2014, 2).
Neben der Auseinandersetzung mit rassistischen gesellschaftlichen Strukturen fokussieren britische Theaterstücke des beginnenden 21. Jahrhunderts verstärkt auf Machtstrukturen, die an Geschlechterrollen anknüpfen. So beschäftigen sich Nina Raines Consent (2017) und Suzie Millers Prima Facie (2019) im Rahmen ihrer generellen Frage nach dem ontologischen Status der ,Wahrheit‘ vor Gericht ebenfalls mit der Rolle von Überlebenden sexualisierter Gewalt und fragen, welchen Wert und welche Glaubwürdigkeit das britische Rechtssystem ihnen zubilligt. Auch Lucy Kirkwoods The Welkin (2020) untersucht geschlechterspezifische Machtdynamiken und gerichtlich sanktionierte, strukturelle Gewalt gegen Frauen: Im Ostanglien des 18. Jahrhunderts wird eine als solche gebrandmarkte Ehebrecherin auf Beschuldigung ihres betrogenen Ehemannes angeklagt, ein Kind ermordet zu haben. Entsprechend einer Tradition des englischen common law, nach der zwischen dem 13. und 19. Jh. eine jury of matrons berufen wurde, um etwaige Schwangerschaften von verurteilten Frauen festzustellen und somit z.B. die Vollstreckung der Todesstrafe auszusetzen oder das Strafmaß umzuwandeln (s.a. Butler 2019), wird eine ausschließlich weibliche Jury gebildet, die über die angezeigte Schwangerschaft der Angeklagten urteilen soll. Als sie von einer der anderen matrons gefragt wird, warum die Jury die Angeklagte begnadigen sollte, antwortet die Hebamme Elizabeth Luke:
Because she has been sentenced to hang on the word of a cuckolded husband. […] Because every card dealt to her today and for many years before has been an unkind one, because she has been sentenced by men pretending to be certain of things of which they are entirely ignorant, and now we sit here imitating them, trying to make an ungovernable thing governable. (Kirkwood 2020, 64)
Aufgrund seiner ausschließlich weiblichen Jury, aber auch, weil etwa zwei Drittel des Stücks die Debatten der Jury hinter geschlossenen Türen zeigen, wurde The Welkin u.a. als feministische Antwort auf Sidney Lumets Film Twelve Angry Men (1957) verstanden. Doch Kirkwood entwirft keine Identifikationsgeschichte überlegener weiblicher Solidarität, sondern zeigt, dass Frauen genau wie Männer tatkräftig mitwirken an der Aufrechterhaltung eines im Grundsatz frauenfeindlichen Rechtssystems, das Frauen keinen Glauben schenkt und sie auf das bloße Wort eines Mannes zu verurteilen bereit ist (Akbar 2020).
4. Postkoloniale Kontexte: Irland und Südafrika im 20. und 21. Jahrhundert
Aufgrund seiner dezidierten Opposition zum britischen Theater ist das irische Drama als eigenständige dramatische Tradition zu betrachten. Auch in dieser Tradition finden sich etliche Bühnenfassungen, die auf realen Gerichtsverfahren beruhen. Als Beispiel par excellence und eines der berühmtesten Gerichtsdramen überhaupt ist hier George Bernard Shaws Heilige Johanna (Saint Joan, 1923) zu nennen, entstanden kurz nach der Heiligsprechung der Johanna von Orléans, dem Ende und Höhepunkt des Revisionsverfahrens gegen das Urteil der Inquisition von 1431. Shaws Text basiert auf Überlieferungen zu ihrem Leben und ihrem Inquisitionsprozess, wobei er in erster Linie Fragen nach der Grenze zwischen Glauben und religiösem Fanatismus, nach dem Konflikt um Geschlechterrollenerwartungen und der Gerechtigkeit im kirchlichen Sinne ins Auge fasst. Shaw präsentiert dabei differenziert die Standpunkte der einzelnen Akteur*innen, ohne eindeutig Partei zu ergreifen, weshalb er selbst betont, in diesem Stück gebe es keine Schurken (Shaw 2003a, 50). Allerdings wird die Legitimität der kirchlichen Gerichtsbarkeit durch Die Heilige Johanna grundsätzlich in Frage gestellt, da im Laufe des Prozesses offenkundig wird, dass an Johanna ein Exempel statuiert werden soll. Im Epilog konzediert sogar der Geist des Scharfrichters: „I who am of the dead, testified that day that you were innocent. But I do not see how The Inquisition could possibly be dispensed with under existing circumstances“ (Shaw 2003b, 163).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, während des Irish Literary Revivals, tritt irische Identität zunehmend in Opposition zur britischen und die irische Literatur befasst sich verstärkt mit der Unterdrückung durch die Kolonialmacht. Nach dem zweiten Weltkrieg rückt der nach wie vor virulente Nordirlandkonflikt, die sogenannten Troubles, verstärkt in den Fokus. So dramatisiert beispielsweise Roger MacHughs Trial at Green Street Courthouse (1945) den Mord an Head Constable Thomas Talbot durch einen republikanischen Revolutionär in Dublin am 12. Juli 1871 ebenso wie den anschließenden Mordprozess. Owen McCaffertys kurzes Stück Courtroom No. 1 (2000, als Teil des Gemeinschaftswerks Convictions) zeigt die Befragung eines Opfers der Troubles durch eine Stimme aus dem Off. Die Uraufführung dieser kurzen Szene fand im ehemaligen Crumlin Road Courthouse in Belfast statt und der Gerichtssaal fungiert hier als ‚Fegefeuer‘ der nicht enden wollenden Suche nach Antworten auf die während der Troubles erlittenen Qualen (Phelan 2010, 200). Letztlich werden diese Antworten jedoch weder durch den nach wie vor andauernden politischen Diskurs um die Troubles noch durch deren dramatische Aufarbeitung geliefert.
Aus der Fülle weiterer postkolonialer Länder, in deren Theatern und Literaturen Gerichtsszenen in unterschiedlichen Kontexten eine oft zentrale Rolle spielen, soll im Folgenden insbesondere die dramatische Resonanz der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission (TRC) hervorgehoben werden. Es handelt sich dabei um eine gerichtsartige Kommission, die im Jahr 1996 nach dem Ende der Apartheid (1948–1994) vom damaligen Präsidenten Nelson Mandela eingerichtet wurde, um die unzähligen Verbrechen gegen die Schwarze Bevölkerung des Landes während der Apartheid zu untersuchen. Die TRC lud Überlebende von rassistisch motivierten Gewalttaten zu teils öffentlichen, teils nicht-öffentlichen Anhörungen vor, um auf Grundlage dieser Berichte Anklage zu erheben. Die durch Erzbischof Desmond Tutu geleitete TRC erhob Anspruch auf Wahrheit und Versöhnung nicht nur im politischen, sondern auch religiösen Sinne. Ein besonderer Fokus der TRC lag auf der Performanz von Öffentlichkeit, die als ein wesentlicher Teil eines jeden Gerichtsverfahrens und der Herstellung von Gerechtigkeit verstanden wird (Farmer 2010, 468): Aufgrund ihrer inszeniert wirkenden öffentlichen Anhörungen, die breitenwirksam in den Medien übertragen wurden, präsentierte sich die TRC sowohl als Ort der ‚Wahrheit‘ als auch großer Emotionalität (Bharucha 2001, 3767). In diesem Sinne ist es nicht überraschend, dass sich auch das Drama mit der TRC auseinandersetzt, so z.B. Jane Taylors Ubu and the Truth Commission (1997), John Kanis Nothing but the Truth (2002) und in Paavo Tom Tammi und Michael Lessacs Truth in Translation (2006). debbie tucker greens truth and reconciliation (2011) zieht darüber hinaus Analogien zur Suche nach ‚Wahrheit‘ und Versöhnung im Kontext anderer Genozide, indem sie ihren Blick nach Ruanda, Simbabwe, Bosnien und Nordirland ausweitet (hierzu a. Riedelsheimer & Stöckl 2017).
5. USA im 20. und 21. Jahrhundert
Eine der frühesten nennenswerten Gerichtsverhandlungen im amerikanischen Drama findet sich in Bayard Veillers Melodrama The Trial of Mary Dugan (1927), welches auf eine effektheischende und voyeuristische Weise den Prozess des gleichnamigen Showgirls, das des Mordes an seinem reichen Liebhaber beschuldigt wurde, auf die Bühne bringt. Im Stück werden wiederholt die Zuschauer als eine Art Jury direkt angesprochen. Ayn Rands Night of January 16th (1934) führt diese Strategie noch einen Schritt weiter, indem der Ausgang des Stückes – und damit des Prozesses – vollends der Entscheidung des Publikums überlassen wird. Rands Stück basiert lose auf dem vermeintlichen Mord an dem schwedischen Industriellen Ivar Kreuger (1880–1932), bekannt als ‚Zündholzkönig‘ und spielt im Gerichtssaal des Mordprozesses. Vor Beginn der Vorstellung werden einige Zuschauer*innen ausgewählt, um stellvertretend für den Rest des Publikums als Jury zu fungieren. Abhängig von ihrem Urteil endet die Aufführung mit einem der beiden alternativen Enden, einem Schuld- oder einem Freispruch.
Die wohl prominenteste Gerichtsverhandlung im US-amerikanischen Drama des 20. Jahrhunderts findet sich in Arthur Millers Hexenjagd (The Crucible, 1953), das die Salemer Hexenprozesse aus dem Jahr 1692 auf die Bühne bringt und zeigt, wie haltlose Gerüchte sich immer weiter verselbständigen, in Massenhysterie umschlagen und letztlich das Leben Unschuldiger kosten. Das Stück gipfelt in einem Prozess gegen verschiedene Beschuldigte, in dem das Gericht den Fehler der Hexenjagd zwar erkennt, gleichwohl den der Hexerei bezichtigten Bauern John Proctor zum Tode verurteilt aus Sorge, ein Freispruch könnte die Autorität der Kirche untergraben. Nach heftigen Auseinandersetzungen im Gericht wendet sich allerdings mit Reverend Hale ein Vertreter der Kirche vom Wahnsinn dieses Prozesses ab: „I denounce these proceedings, I quit this court!“ (Miller 2000, 105; zum Stück als Kommentar auf ein marodes amerikanisches Gerichtssystem s.a. Samuelson 1995). Ursprünglich eine Parabel auf die Jagd nach vermeintlichen Kommunist*innen während der McCarthy-Ära (1947–1956), gewann das Stück neue Aktualität vor dem Hintergrund einer zunehmenden Geringschätzung von Fakten unter der Präsidentschaft von Donald Trump (Rintoul 2020). Trump selbst stilisierte sich mehrfach als Opfer einer angeblichen ,Hexenjagd‘ (Markham-Cantor 2019). Mit der McCarthy-Ära beschäftigt sich ebenfalls Eric Bentley in Are You Now Or Have You Ever Been? (1972), das auf Transkripten von Anhörungen des sogenannten House Un-American Activities Committee basiert, in denen u.a. Schriftsteller*innen (darunter A. Miller) und Filmschaffende wegen angeblicher kommunistischer Aktivitäten oder Sympathien befragt und ggf. sanktioniert wurden und häufig auch dazu gedrängt wurden, andere zu denunzieren.
Luis Valdez’ Zoot Suit (1979) wendet sich ethnisch codierten Konflikten zu, die generell ein zentrales Thema des amerikanischen Dramas im 20. und 21. Jh. darstellen. Das Stück basiert auf dem Mordprozess infolge des sogenannten Sleepy Lagoon murder aus dem Jahr 1942: José Gallardo Díaz, ein Amerikaner mexikanischer Abstammung, wurde in der Nähe eines Badesees in Commerce, California, tot aufgefunden, ohne Anhaltspunkte auf die genaue Todesursache oder etwaige Verdächtige. Auf der Suche nach dem Schuldigen verhaftete die Polizei siebzehn junge Amerikaner mexikanischer Abstammung, von denen ohne hinreichende Beweise zwölf wegen Totschlags und die übrigen fünf wegen Körperverletzung zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Ein Indiz ihrer Schuld sah der Ankläger unter anderem in der Kleidung der Verdächtigen: Sogenannte Zoot Suits – auffällige Anzüge mit oben weiter, unten enger Hose und extrem lang geschnittener Jacke, die seinerzeit u.a. bei Afroamerikanern und Amerikanern mexikanischer Abstammung, aber auch bei einigen Kriminellen als besonders schick galten – wiesen ihre Träger vermeintlich als Angehörige des organisierten Verbrechens aus. Der Fall entzündete eine Welle rassistisch motivierter Gewalt gegen ethnische Minderheiten in Los Angeles, die als die 1943 Zoot Suit Riots bekannt wurde. Weiße Mobs attackierten nicht-Weiße Amerikaner, die Zoot Suits trugen. Valdez’ Stück diskutiert exemplarisch das Schicksal des (fiktionalisierten) Henry Reyna, des Anführers der berüchtigten und weitgehend aus Amerikanern mexikanischer Abstammung bestehenden 38 Street Gang, und es imaginiert so den Sleepy Lagoon Mord als das Resultat von Bandenkriminalität bzw. -rivalität. Valdez legt seinen Fokus dabei auf zwei verschiedene Prozesse: die ursprüngliche, von rassistischen Vorurteilen gegen die Angeklagten geprägte Verhandlung, welche die Schuld der Angeklagten weitgehend auf Basis ihrer ethnischen Zugehörigkeit feststellt, sowie den anschließenden und innerhalb des Stückes klimaktischen Berufungsprozess, in dem die lebenslänglich verhängten Freiheitsstrafen aufgehoben werden. Bei seiner New Yorker Premiere im März 1979 war Zoot Suit erst das zweite Chicano play, das jemals am Broadway gespielt wurde. Dies ist zum einen bemerkenswert, da auf diese Weise sowohl der Sleepy Lagoon Fall selbst als auch das Thema der institutionellen Diskriminierung, der viele Amerikaner*innen mexikanischer Abstammung ausgesetzt waren bzw. nach wie vor sind, erstmals einem mehrheitlich Weißen Broadwaypublikum breitenwirksam vor Augen geführt wurde. Zum anderen erlangte die Gruppe der Chicanos im Rahmen des Stückes Deutungshoheit über einen Diskurs, der bis dato nahezu ausschließlich durch Weiße Medienschaffende geprägt wurde (zu Zoot Suit s.a. Rossini 2008, 63–76).
Auch andere gesellschaftspolitisch brisante Prozesse werden in der Form des tribunal plays neu verhandelt. Während Daniel Berrigans The Trial of The Catonsville Nine (1971) ein Verfahren gegen neun Pazifist*innen, die im Protest gegen den Vietnamkrieg mehrere Hundert Bescheide der Einberufungsbehörde verbrannten, inszeniert, kommt Emily Manns Execution of Justice (1985) bezüglich des Prozesses um die Ermordung der homosexuellen Politiker und Aktivisten Harvey Milk und George Moscone zu dem Schluss, dass dort ein Fehlurteil gefällt wurde. Manns Greensboro: A Requiem (1996) untersucht einen Anschlag des Ku-Klux-Klans auf Anti-Klan-Demonstrationen in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel in Greensboro, North Carolina, aus dem Jahr 1979. All diese Stücke sind zugleich dramatische Texte und kulturelle Dokumente, die sich an der Grenze zwischen Recht und Imagination positionieren (O’Connor 2013, 5). Sie rollen jene umstrittenen Verfahren zumindest symbolisch neu auf und versuchen so, eine Form von Gerechtigkeit zu etablieren, die den Verfahrensbeteiligten durch die Gerichtsbarkeit selbst verwehrt zu bleiben scheint (zu diesen sowie anderen US tribunal bzw. trial plays s.a. O’Connor 2013).
Nach wie vor häufig gespielt wird auf amerikanischen Bühnen To Kill a Mockingbird, nach dem Roman von Harper Lee aus dem Jahr 1960. Seine Popularität verdankt das Stück nicht zuletzt dem Umstand, dass sein zentrales Thema, soziale Ungerechtigkeit zwischen verschiedenen Ethnien, seit den 1960er Jahren kaum an Aktualität verloren hat. Während Theater lange Zeit auf Christopher Serges Adaption (1970) zurückgriffen, feierte 2018 eine Neufassung von Aaron Sorkin am Broadway Premiere. Wie Lees Roman spielt auch Sorkins Stück im Alabama der 1930er Jahre und zeigt den Anwalt Atticus Finch, der den zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigten Schwarzen Tom Robinson verteidigt. Während der Roman wiederholt als White savior narrative kritisiert wurde, erhalten die Schwarzen Figuren in Sorkins Bühnenversion deutlich mehr eigene Handlungsfähigkeit (Green 2018). Darüber hinaus löst sich Sorkin von der Struktur des Romans, wodurch der Strafprozess weiter in den Fokus rückt und gleichsam als strukturierendes Element fungiert. Ironischerweise wurde die Broadwayproduktion kurz nach ihrer Premiere selbst zum Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen: Zum einen, weil die Erben Harper Lees Sorkin vorwarfen, seine Adaption entstelle den Roman (Green 2018), zum anderen, weil Sorkins Anwälte ein ausschließliches Bühnenrecht für den Titel beanspruchten und versuchten, jegliche kommerzielle Aufführungen der früheren Version von Christopher Serge zu verbieten.
Quellen
Gesetz
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Diskutierte Theaterstücke
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Zitationsvorschlag
Marlena Tronicke (2022): Gerichtsszenen im englischsprachigen Theater, in: Thomas Gutmann, Eberhard Ortland, Klaus Stierstorfer (Hgg.), Enzyklopädie Recht und Literatur,
doi: 10.17879/71089502764
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